Gleich vorab möchte ich möglichst unmissverständlich festhalten, dass ich bei diesem Thema deutlich zwischen einerseits dem realen Leben und andererseits dem Rollenspiel unterscheide.
Im realen Leben bin für eine umfängliche Gleichstellung, keine reine Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ich habe weder Vorurteile, denen ich mir bewusst wäre, noch empfinde ich Ablehnung gegen homosexuelle Menschen; allein schon weil mich das freiwillige praktizierte, private Sexualleben erwachsener, mündiger Menschen nur dann etwas angeht, wenn ich Teil davon sein soll. Ebenfalls werte ich keine Menschen aufgrund der natürlichen Farbe ihrer Haut ab. Ich hasse keine Kinder, zumindest nicht alle und mag keine zu viel. Bewerte die Demokratie als eine schlechte, aber zugleich beste uns zur Verfügung stehende Staats- und Regierungsform. Ich achte die Meinungsfreiheit, bin jedoch gegen Hetze und Extremismus ...
Um diese Liste nicht weiter in die Länge zu ziehen: Allgemein betrachte ich mich als im vernünftigen Maß toleranten, weitgehend aufgeklärten und aufgeschlossenen Menschen.
Dies soll auch gar nicht diskutiert werden, dies ist unstreitbar oder steht zumindest nicht zur Diskussion. Für den folgenden Teil gilt vor allem: Nein, ich bin kein verrückter, vergewaltigender, homophober Rassist. Aber ich nehme mir dennoch die Freiheit, in vielen Fällen, allein schon aus Gründen der sprachlichen Einfachheit, das generische Maskulinum zu verwenden, soweit mir dies sinnvoll erscheint, zwischen Genus und Sexus zu unterscheiden sowie "Menschen mit Penis" zusammenfassend, auch auf die Gefahr damit sehr wenige Menschen auszunehmen, als Männer bezeichnen. Ja, vor wenigen Jahren hätte ich dies voranzustellen noch nicht als sinnvoll bewertet, und ja, dies nun als sinnvoll zu bewerten, erscheint mir zumindest seltsam. Aber nein, dieses Thema soll bitte nicht für realpolitische Stellungskämpfe genutzt werden, sondern sich auf die Gestaltung des Rollenspiels beziehen.
Im Rollenspiel habe ich eine gänzlich andere Haltung. Hier möchte ich, was ich im realen Leben nicht möchte, nämlich Benachteiligung, Verfolgung, Intoleranz und all die anderen schlimmen Dinge und davon reichlich.
In Aventurien gehe ich exemplarisch und ohne jede Absicht der Vollständigkeit davon aus, dass:
- Körperliche Züchtigung von Kindern vielfach als Teil einer als gesunden, liebe- und verantwortungsvollen Erziehung betrachtet wird. Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie.
- Einige Kulturen, z.B. die Novadis, Ferkina usw., Frauen zwar nicht in jedweder Hinsicht schlechter als Männer behandeln, doch gewiss nicht gleich. Selbst in anderen Regionen Aventuriens werden Männer und Frauen nicht absolut gleich behandelt werden, sondern höchstens unter gleichen Umständen gleich. Beispielsweise wird selbst eine aus moderner Sicht diesbezüglich absolut aufgeklärte Sippe thorwalscher Kaperfahrer ihre hochschwangeren Frauen nicht mit auf Raubzug nehmen, die Männer der schwangeren Frauen jedoch durchaus. Außerdem wird ihnen klar sein, dass allein schon in Hinblick auf zukünftige Generationen und der dafür notwendigen, auf sexuellem Weg geschehenden Vermehrung der Verlust von 20 Männern weniger schmerzhaft ist, als der Verlust von 20 Frauen.
- Offen gelebte Homosexualität und andere von der Norm abweichende Vorlieben in einigen Regionen deutliche Anfeindungen oder sogar Gefahr für Leib und Leben zur Folge haben kann. Während dies auf den Zyklopeninseln, in Al‘Anfa oder im Horasreich zumindest in bestimmten Kreisen beinahe gewöhnlich sein mag, in Thorwal eventuell noch mit einem Schulterzucken abgetan wird, könnte dies im Bornland mit deutlicher Anfeindung geahndet werden und in der Khom sogar zur Steinigung führen.
- Demokratie, Meinungsfreiheit und andere derartige Grundwerte existieren vielleicht bei den Elfen. Allgemein ist dies jedoch eher ein gängiges Feindbild, nicht allein bei den herrschenden Schichten, sondern auch beim einfachen Volk ein unerhörtes Rütteln an den Grundfesten der Gesellschaft. Die meisten Menschen werden nicht einmal von allein auf den Gedanken kommen, ihr Wort könne denselben Wert wie das Wort eines Adligen oder eines Geweihten haben, oder diesen Gedanken schnell als törichte, gefährliche Spinnerei verwerfen.
- Sklaverei existiert,
ebenso wie Rassismus und in einigen Regionen. Für den al‘anfanischen Großgrundbesitzer
ist es völlig normal und in keiner Weise verwerflich, wenn er sich
gewaltsam gefangene, entführte und zur Schau gestellte Menschen kauft,
um sie für sich arbeiten zu lassen. Der Sklave ist weniger Mensch oder zumindest kein "richtiger" Mensch,
sondern viel mehr ein Objekt des Handels, Werkzeug und wird auch so behandelt.
Ähnlich verhält es sich in Gesellschaften, die Schuldsklaverei, Leibeigenschaft und vergleichbares kennen. Selbst die wenigen, welche in solch einer Gesellschaft gegen Sklaverei sind, möchten meist nicht die Sklaverei abschaffen, sondern sind bloß mit ihrer aktuellen Position unzufrieden, möchten nicht Sklave, sondern Sklavenhalter sein.
Rassistische Vorurteile werden nicht als Vorurteile sondern als allgemein bekannte Wahrheiten angesehen. - Aventurien kennt großflächig nur genau zwei Geschlechter, männlich und weiblich. Eine Unterscheidung zwischen biologischem und gesellschaftlichem Geschlecht, Geschlechtsidentitäten in gefühlt zehntausend Farben, Formen und Geschmacksrichtungen kommt nicht vor. Da mag mal jemand mal mehr dem eigenen Geschlecht oder beiden zugeneigt sein, vielleicht auch gar keinem. Das fällt auf und damit wird, wie oben bereits geschildert, umgegangen. Doch abgesehen von obigen Ausführungen geschieht nicht viel darum bzw. bleibt es dabei. Allein in kleinen akademischen Kreisen der fasarer Sexualmagie oder großen Rahjatempeln mag solches mal überlegt werden, doch kommen auch diese aventurischen Experten kaum auf die Definition eines polyamorphen Intersexuellen mit pansexuellen BDSM-Vorlieben.
- Urteile werden leichter, schneller und gerne auch drastischer gefällt. Das Wort eines Adligen ist mehr wert als das Wort eines Bauern, die Unschuldsvermutung gilt meist nicht, Rechtssicherheit ist vielfach nicht gegeben usw. Dies kann und sollte immer wieder mal den Eindruck lokaler Besonderheiten und durchaus auch Ungerechtigkeiten fördern.
- ...
Weshalb ich dies im Rollenspiel, d.h. in Aventurien und nicht im realen Leben, gerne so haben möchte, hat viele Gründe. Einige dieser Gründe, ebenfalls ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sind:
- Dies hält die Welt lebendig, gibt ihr einen realistischen Anstrich, Glaubwürdigkeit.
- Die Spielwelt benötigt Antagonisten und nein, der klassische böse Ork genügt mir nicht. Besonders interessant wird dies dann, wenn der Antagonist keine stereotype Gestalt oder rein aus Prinzip, weil der Plot das eben gerade so braucht, böse ist. Allgemein mag ich das platte "Böse" nicht. Der Gegenspieler wird aus seiner Situation heraus nachvollziehbar und zudem etwas grauer, nicht rein schwarz oder weiß.
- Hier bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte für das Rollenspiel.
- Beispielsweise könnten die SCs Teil dieses Systems sein und damit auch für die Spieler eine interessante Herausforderung bieten, insofern diese im realen Leben oft ganz andere Positionen vertreten. Wenn die Dame der Runde auf einmal einen Ork mit seinen Sklavinnen spielt, führt dies häufig nicht nur zu unterhaltsamen Situationen, sondern regt zudem zum Nachdenken an.
- Alternativ könnten die SCs selbst benachteiligt werden und versuchen, sich mit dem System zu arrangieren oder sogar für eine Verbesserung ihrer Lage kämpfen und dies gewiss nicht ohne Widerstand und Unverständnis.
- Wenn sich die Tsageweihte über den Vater empört, welcher seiner 10jährigen Tochter eine saftige Ohrfeige verpasst, da sich diese früher von der Feldarbeit weggeschlichen hat, mag dies zuerst für alle ein nachvollziehbarer Impuls sein. Doch entstehen häufig interessante Spielmomente, wenn darüber eine Diskussion entsteht - Ihm hat dies als Junge doch auch nie geschadet, wie sonst sollte der Vater seine Tochter erziehen und warum überhaupt?
- Die Spielerin der Ferkina wird sich eventuell erst einmal in die Rolle einfinden müssen und überlegen, wie sie mit der Ungleichbehandlung umgehen möchte. Wobei sie nicht allein an der Haltung der Männer ihres Stammes zu knabbern haben wird, sondern auch an der Haltung der übrigen Frauen des Stammes, welche die Situation als völlig normal bewerten und sich eventuell eher um die aufmüpfige Verrückte sorgen.
- Positive und ungewöhnliche Konstellationen stechen eher hervor und werden leichter als solche wahrgenommen. Zudem fallen sie nicht gleich als politisches Statement mit erhobenen Zeigefinger negativ auf. Eine absolut perfekte Gesellschaft existiert ohnehin nicht oder ist nur sehr, sehr schwer zu beschreiben, eine Beschwerdewelle in unserer teilweise sehr sensiblen, bis übersensiblen Gesellschaft beinahe unvermeidlich. Auch deshalb sollte auf zu umfängliche Ambitionen in diese Richtung verzichtet und zur Not besser nicht beschrieben, die Ausgestaltung der jeweiligen Spielrunde überlassen werden.
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Wobei, damit dies nicht missverstanden wird, ich auch nicht möchte, dass Aventurien in Klischees und politischen Stellvertreterkämpfen ertrinkt. Bereits auf den voll ausgebildeten Zwitter, die vollbrüstige Frau mit Penis und Vollbart aus dem letzten offiziellen DSA-Abenteuer, welches in unserer Runde gespielt wurde, hätte ich verzichten können. Dies nicht allein, weil ich die Darstellung rein persönlich als unästhetisch empfand, sondern insbesondere weil diese Gestalt absolut nichts zum Plot beitrug und mehr wie eine politische Stellungnahme des Autoren wirkte - Da schaut, das menschliche Multitool und alle feiern es/ihn/sie/x/queertix/"was auch immer", weil Aventurien so toll, modern und tolerant ist. Ebenso gefallen mir viele der in neueren Filmen gezeigten vermeintlich starken Frauen nicht, weil sie nicht wirklich stark, sondern zickig sind oder das geschlechtsinvertierte Abziehbild des Machoidioten parodiert und sich dabei absolut ernst nimmt. Auch Black Panter hat mich diesbezüglich nicht überzeugt; als Musterbild der idealen "schwarzen Kultur" - was immer das sein soll - gefeiert, wäre ein Film mit nahezu identischem Text, doch von hellhäutigen Menschen gespielt, vermutlich schnell als rassistisches Machwerk in der Versenkung verschwunden.
Ein positives Beispiel habe ich vor einiger Zeit in "Star Trek: Discovery" gesehen. Eine Frau ist Captain, ein männlicher Lieutenant und ein ebenfalls männlicher Schiffsarzt führen eine romantische Beziehung, einige Brückenoffizier sind Außerirdisch und weder macht darum jemand einen Aufstand noch werden Lobeshymnen gesungen. Während sich in der realen Welt alle über Außerirdische aufregen würden, wird dies dort als ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Umstand hingenommen, ebenso das schwule Paar und die weibliche Führungsposition. Das ist ebenso ein normaler Teil des Alltags wie das morgendliche Frühstück. Im Gegensatz dazu gibt es jedoch gleichsam Kulturen in diesem fiktiven Universum, welche dies ganz anders handhaben, bei welchen dies durchaus ein Thema wäre. Auch nicht schlecht hinsichtlich der "starken Frau" war der Wonder Woman-Film; sie war stark, erfahren und selbstständig, aber zugleich teamfähig, kooperativ und kam durchaus auch mit Männern gut aus, lediglich war sie mir für eine massiv trainierte Amazone etwas zu schmal.