Zu einer anderen Zeit, die wir, die nicht in ihr gelebt haben, gerne die gute alte nennen, weil wir nicht in ihr gelebt haben, beobachtete der britische Arzt und Forscher George Murray Levick auf einer Antarktisexpedition die Leben der Adeliepinguine (Pygoscelis adeliae). Was er dort beobachte, schockierte ihn so sehr, dass er zwei Berichte über die Expedition verfasste: Einen über dass allgemeine Leben der Vögel, der es veröffentlicht zu großer Popularität brachte und einen zweiten über deren Sexualverhalten, den er auf altgriechisch verfasste und nur wenigen Forschern persönlich übergab, die allesamt dafür sorgten, dass seine Beobachtungen nicht einmal den in den biologischen Fakultäten, geschweige denn der der Öffentlichkeit bekannt wurden. Es dauerte beinahe hundert Jahre, bis die Studie wiederentdeckt und veröffentlicht wurde. (Das jetzt eine Bezahlschranke verhindert, dass sie gelesen wird, ist eine andere Geschichte.)
Für einen im viktorianischen England aufgewachsenen Gentleman war das Verhalten der Pinguine aber auch zu skandalös: Selbstbefriedigung, Polygamie, Homosexualität, nicht auf Vermehrung ausgerichtete Paarungen aus reiner Lust, Vergewaltigungen, Missbrauch von Küken und sogar Nekrophilie.
Dass all das nicht seiner Vorstellung von Moral und der Vorstellung entsprach mag verständlich sein, aber was hinderte ihn daran, seine korrekten Beobachtungen dennoch - ohne Wertung - zu veröffentlichen? Weil er die Moralvorstellungen seiner Gesellschaft als natürlich, d.h. durch die Natur legitimiert ansah. Eine - aus seiner Sicht - perverse Natur hätte ihm die Grundlage seiner Moral entzogen. Deshalb suchte und fand er auch einen Grund, warum die Pinguine sich so unnatürlich verhielten: Der lange antarktische Winter und das damit verbundene nichtsnutzige Herumlungern! Die Pinguine hatten einfach zu viel Freizeit und kamen deshalb auf dumme Gedanken. Problem gelöst und Moral und die »gute« Natur gerettet, schuld waren die Umstände.
Dass er es war, der seine eigenen Kultur in die Natur spiegelte, um dann mit der (von ihm geschaffenen) Natur seine Kultur zu legitimieren, bemerkte er nicht. Das könnte uns nicht mehr passieren, oder?
Ich dachte ja, aber einige Argumente, die ich in der »Geschlechterdiskussion« gelesen habe, lassen mich zweifeln. Da wurde von den »natürlichen Freuden des Elternseins«, dem im Vergleich zur Frau prinzipiell stärkeren Mann, dem naturgegebenen Nachteil des Kinderkriegens (der keinem Arbeitgeber zugemutet werden kann) und immer wieder von «dem Mann« und »der Frau« gesprochen und aus den Unterschieden zwischen diesen weitreichende Konsequenzen gezogen.
Ich höre schon den Vorwurf, dass ich sicher gleich die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern wegdiskutieren werde. Aber das werde ich nicht machen. Ich werde auch nicht fragen, mit welchem Recht von Sein auf das Sollen geschlossen wird, wie es schon Hume zu Recht kritisiert hat, nicht auf den naturalistischen Fehlschluss eingehen, das Gute in der Natur zu suchen, wie es Levick getan hat und auch nicht auf den moralischen Fehlschluss, ein unerwünschtes Verhalten als naturwidrig anzusehen.
Ganz im Gegenteil: Die Unterschiede sind real, unsere Art zeichnet sich durch einen moderat ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus auch hinsichtlich der Körpergröße aus. (Was der übrigens - im Vergleich zu verwandten Arten ohne eine solche Ausprägung - mit ziemlich kleinen Penissen korreliert.)
Was das bedeutet, lässt sich recht anschaulich an der Häufigkeit der verschiedenen Körpergrößen bei Menschen zeigen. (Die X-Achse gibt die Körpergröße und die Y-Achse die Häufigkeit an, der genaue Kurvenverlauf ist unwichtig). Die meisten Menschen sind von mittlerer Größe sind und es nur wenige ganz große und ganz klein: nv1.png
Bei einer Differenzierung nach Frauen und Männern ergeben sich folgende Verteilungen: nv3.png
Frauen sind im durchschnitt kleiner als Männer. Ähnliche Kurven wird es auch für die Muskelmasse im Verhältnis zum Gesamtgewicht und viele andere Eigenschaften geben. Alles nachweisbare biologische Unterschiede, die nicht zu leugnen sind.
Aber was heißt das? Eigentlich nichts, denn es ist nicht möglich, im Umkehrschluss über eine Eigenschaft festzustellen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, wie sich besonders gut an einer Kurve zeigt, bei der ich die vorausgesetzte Annahme verborgen habe: nv2.png
Der Geschlechtsdimorphismus ist weiterhin deutlich an den Daten zu sehen, aber er ist für die Bewertung einer konkreten Person irrelevant.
Natürlich gibt es Eigenschaften, bei denen ein größererGeschlechtsdimorphismus besteht. Wie wäre es mit der Größe der Brüste? (Hinweis: Das regelmäßige Trinken von gehopften Malzgetränken verändert die Werte erheblich) Oder der Länge von Klitoris und Penis? Oder der Anzahl von X- und Y-Chromosomen? Die Kurven mögen so aussehen: nv4.png
Vielleicht sogar bei ganz wenigen so (ausdrücklich bei den Geschlechtschromosomen nicht): nv5.png
Oder sie sind asymmetrisch oder verschoben; aber immer wird es Menschen geben, die nach diesem Kriterium ein Mann, nach anderen aber eine Frau sind und umgekehrt.
Ich hoffe, dass das Problem deutlich geworden ist: Wir alle projizieren wie Dr. Levick unser Bild von Frauen und Männern in die Natur und benutzen die dann in der Natur gefundenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, um die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter in unserer Gesellschaft zu rechtfertigen und einzelnen Menschen das Recht absprechen, so zu sein, wie sie sind. Aber wir sollten es bemerken und korrigieren können, auch wenn es uns erst einmal unnatürlich vorkommen mag.
Die verschiedenen Wissenschaften sind an dieser Stelle schon deutlich weiter. Die Einteilung in männlich und weiblich ist viel zu eng und beschränkt um der Wirklichkeit gerecht zu werden, wie es Suzannah Weiss in ihrem lesenswerten Artikel »5 Ways That Science Supports Feminism – Not Gender Essentialism« zusammenfasst.
Biologische Unterschiede taugen nicht als Begründung, um Menschen unterschiedliche Rechte zuzugestehen und sie ungerecht zu behandeln. Wer das dennoch will, sollte dazu stehen und ich wette zehn Y- gegen ein X-Chromosom, dass damit ein persönlicher Vorteil verbunden ist und sei es nur, dass es am Arbeitsplatz weniger Konkurrenz gibt und jemand anderes den Abwasch erledigt.
Um mal einen von mir sehr verehrten Rollenspieler zu zitieren: »I'm a feminist!«
Ich auch
Scheffnow
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Dr. George Murray Levick (1876–1956): unpublished notes on the sexual habits of the Adélie penguin
Polar Record - Dr. George Murray Levick (1876–1956): unpublished notes on the sexual habits of the Adélie penguin - Cambridge Journals OnlineSuzannah Weiss: 5 Ways That Science Supports Feminism – Not Gender Essentialism
5 Ways That Science Supports Feminism – Not Gender Essentialism — Everyday Feminism