Reisebericht #12 – In den Ruinen Ysilias
Am Morgen nach der Begegnung mit dem Geist Nantiangel bemühte sich die Expedition anhand einer alten Karte des Herzogtums Tobrien den schnellsten Weg von Vallusa nach Ysilia zu finden. Die von den Seemännern Ohm und Raluf bevorzugte Reise mit dem Schiff ins südliche Ilsur und von da aus über die Reichsstraße zurück nach Norden wurde wegen des großen Umwegs und der zusätzlichen Kosten der Passage schnell verworfen. Länger diskutiert wurde dagegen darüber, ob man das Sumpfland um den Fluss Misa nördlich oder südlich umgehen sollte. Zeja argumentierte, man müsse im Norden zwar einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, dafür komme man aber auf der befestigten Straße schneller voran. Von Perainefurten aus könne man außerdem mit einem Flusskahn südlich bis Eberfried reisen, von wo aus Ysilia in weniger als zwei Tagen erreicht sei. Dem gegenüber stand Livka, die einen direkteren Weg durch das südlicher gelegene und nur dünn besiedelte Hügelland vorschlug. Hier gebe es zwar keine Straßen, dafür aber die Möglichkeit, wertvolle Zeit auf Beorn wett zu machen.
Natürlich entschied sich Kapitän Phileasson letztendlich für die riskante Reise durch die Wildnis und kaufte der gesamten Gruppe einfache Reittiere. Leider mussten fast alle Helden durch schmerzhafte Abschürfungen an den Oberschenkeln oder gar Stürze feststellen, dass es beim Reiten nicht nur darum ging, sich auf ein Pferd zu setzen und dessen Kopf in die richtige Richtung zu drehen. Einzig der Ritter Daerec machte seiner Zunft keine Schande und eine ausgezeichnete Figur im Sattel.
Die Reise durch das erblühende Tobrien, das fünf Jahre zuvor Opfer des vom Garether Magier Galotta ausgelösten großen Ogersturms geworden war war oftmals eintönig und manchmal traurig. Ausgebrannte Dörfer, zerfallene Höfe und vermodernde Karren erschlagener Flüchtlinge lagen zwischen verwildernden Feldern und die verbliebenen Dörfer waren durch wehrhafte Palisaden geschützt während sich die Bewohner nachts nicht hinaus trauten.
Der Grund für diese Furcht sollte sich schon bald offenbaren, denn am vierten Tag der einwöchigen Reise wurde die Expedition im lichten Wald von vier Ogern und einer Hand voll Schwarzpelze überfallen. Nachdem ein Fluchtversuch an scheuenden Reittieren und einer abgeworfenen Livka gescheitert war stellten sich die Helden todesmutig den Menschenfressern, Phileasson und Daerec gar zu Pferde. Im folgenden blutigen Gemetzel wurde Zeja von der Keule eines der Oger schwer am Bein verletzt und auch Livka, deren Magie den Menschenfresser nicht hatte stoppen können wurde von einem wuchtigen Schlag verwundet. Besser erging es Kintan und Leniya, welche jeweils einen tödlichen Tanz mit gleich zwei Orken wagten und auch Ohm und der Moha standen ihren Mann. Die wirklichen Helden des Kampfes waren jedoch Raluf und Daerec, welche gemeinsam drei Oger erschlugen und ihrem Kapitän halfen, auch den letzten zu erschlagen.
Durch die Verwundung eines der Pferde verlangsamt erreichte der Tross schließlich die Stadt Ysilia am Ufer des Yslisees, den ehemaligen Sitz des Herzogs von Tobrien und des Grafen der umliegenden Lande. Die Stadt hatte sich noch nicht von der Plünderung durch die Oger erholt und glich mehr einem Ruinenfeld, auf dem sich dutzende Handwerker tummelten. Allseits wurde geschäftig gebaut und gewerkelt, wurden Trümmer bei Seite geschafft oder boten fahrende Händler ihre Waren feil. Dennoch wirkte die Stadt bei weitem nicht emsig oder gar hoffnungsvoll – schon beim Durchschreiten des Stadttors warnte eine halb blinde Bettlerin offenbar dem fiebrigen Wahn verfallen vor kommenden Horden und einer sich anbahnenden noch dunkleren Zeit. Auch innerhalb dessen, was von den stolzen Stadtmauern übrig war schien die Stimmung bestenfalls gereizt. So wurden die Helden Zeugen, wie ein Halbork mit Steinwürfen vertrieben wurde oder wie einige Gesellen eine Kameradin verprügelten, die beim Mischen von Mörtel gepfuscht und somit den Aufbau einer Mühle gefährdet hatte. Zumindest diesen Streit konnte man dank der Autorität des Ritters schlichten. Die Gruppe zahlte mit klingender Münze den vollkommen überteuerten Preis, den der Händler für seinen Kalk verlangte.
Doch nicht nur den Armen erging es schlecht, die Not hatte auch die Wohlhabenden ergriffen: Eine Magistra der Bannakademie versuchte, den Reisenden gerettete Werke über Alchimie und Antimagie aus der niedergebrannten Bibliothek zu verkaufen – ein günstiges Angebot, für das dennoch die nötige Barschaft fehlte. Da selbst das Guthshaus der Vögtin keinen Platz mehr bot und in der gesamten Stadt kein Obdach zu bekommen war schlug man das Lager in einem verlassenen Hof etwas außerhalb Ysilias auf, jedoch litt in jeder Nacht einer der Freunde an schrecklichen Albträumen.
Wenn es schon keinen erholsamen Schlaf gab, so wollte man den Aufenthalt in der Ruinenstadt zumindest so kurz wie möglich halten und so sprach man schon früh in der alten, größtenteils zerstörten Fechtschule vor. Der letzte verbliebene Schüler, Zordan Ehrwald, klärte die Thorwaler über die Lage auf und erlaubte, in den Gemäuern nach Hinweisen auf Erm Sen zu suchen. Tatsächlich fand man in den Trümmern des Blutturms eine große kupferne Tafel mit den Namen ehemaliger Fechtmeister, doch war Beorn offenbar erneut zuvor gekommen und hatte einen Teil der Platte zerstört.
Die Helden wandten sich nun an die letzte überlebende Lehrerin, die Fechtmeisterin Yona vom See. Die einst aufrechte Reckin bot einen furchtbaren Anblick: ganz dem Alkohol verfallen vegetierte sie von Selbsthass und Schuldgefühlen geplagt in ihrem Arbeitszimmer vor sich hin. Hin und her gerissen zwischen Mutlosigkeit und Jähzorn brauchte es alles Können der Freunde, dieses Wrack einer alten Heldin aus ihrer Lethargie zu erwecken. Erst als man Yona im Lichte der Praiosscheibe zur zerstörten Kupferplatte führte drangen die Worte wirklich zu ihrem benebelten Verstand. Yona grämte sich sehr, dass ihr Name niemals auf der Liste erscheinen würde, doch als man ihr versprach, die Platte zu ersetzen und sie zu verewigen schöpfte sie neue Hoffnung. Sie erzählte den Helden, vor der Schlacht wichtige Dokumente im Keller des Blutturms eingemauert zu haben, wo sie den Krieg überdauert hatten.
Die Expedition schaffte also die Trümmer des nahezu gänzlich zerstörten Turms zur Seite und barg neben den Ehrenschwertern alter Fechtmeister eine Truhe mit alten Schriften, von denen eine auf ein weiteres Duell Erm Sens mit einem der Beni Geraut Schie, möglicherweise demjenigen, dessen Botschaft man in Vallusa in die Wolfsstatue geritzt vorgefunden hatte, hindeutete.
Der Duellplatz, eine Lichtung ganz in der Nähe des Bauernhauses in dem man das Lager aufgeschlagen hatte, war schnell gefunden. Tatsächlich gab es auch hier Spuren der Vergangenheit: der Wolfsritter selbst hatte einen großen Findling mit einer Warnung graviert. Mit mächtiger Magie zwang Livka den uralten Stein, ihr tonlose Antworten auf brennende Fragen zu geben und schließlich barg man unter dem Findling die Reste der Ausrüstung des Verstorbenen. Knochen gab es keine, dafür jedoch einen Abschiedsbrief Erm Sens. Darin erklärte dieser, im Khomkrieg Schuld auf sich geladen zu haben und nicht weiter gegen die Kämpfer aus der Wüste fechten zu wollen. Stattdessen hieß es dort, er wolle nach Norden gehen. Dorthin, „wo das geflügelte Grauen auf einem Bett aus Gold ruht und kein Novadi meinen Weg kreuzt.“
Die Drachensteine.