Die Therapie
Rudger von Mersingen empfing und höflich, aber sichtlich ermattet. Seine herabgezogenen Mundwinkel gaben ihm ein grimmiges Aussehen. Er sprach schleppend, was von seinem anhaltenden Schlafmangel kündete. Ein Muskel an seinem Auge zuckte, wärend Donna Rahjadis und ich ihm im vertraulichen Rahmen ein paar Fragen stellen durften.
So teilte er mit uns seine Befürchtung, dass er zum Gespött der Familie verkäme und von Gernot von Mersingen, dem Markgrafen, abgesetzt würde - sollten seine Beschwerden sich nicht in Kürze bessern.
Während des Gesprächs identifizierte ich ein paar Verhaltensmuster, die sprunghaft auftraten und die auf Donna Rahjadis und auf andere Menschen befremdlich wirken mussten. Es waren Eigenheiten wie beispielsweise eine wiederkehrende, ziellose Handbewegung, ein Rucken mit dem Kopf oder nervöse Blicke die er aus dem Fenster warf und durch den Raum schickte. Ich erkannte darin Tendenzen zum verfolgungswahn. Diese Symptome gingen auf den Schlafentzug zurück. Und noch etwas kam heraus, was mich sehr erstaunte und zunächst befremdete: Rudger von Mersingen fügte sich diesen selbst zu. Er fürchte den Schlaf. Damit konnte ich weiter in die Tiefe gehen und das eigentliche Problem ergründen. Rudger leidete an Albträumen. Vor ungefähr drei Mondläufen hatten sie begonnen. Seitdem tat er alles, um sich wach zu halten und nicht mehr von seinen nächtlichen Alptraumvisionen geplagt zu werden.
So konnte es nicht weitergehen! Das war eine Beleidigung an den Herrn Boron selbst, vermessen und eitel. Statt dass er weiter den Schlaf scheute, würde ich ihm bei seinen Alpträumen zur Seite stehen. Wenn sie eine Warnung meines Herren waren, würde ich sie zu deuten wissen und dem Herrn von Mersingen meinen Rat vorlegen. Sollten jedoch dunklere Mächte ihn im Schlaf quälen, dann würden Donna Rahjadis und ich uns mit vereinten Kräften ihnen entgegenstellen.
Wir verabredeten uns für die achte Stunde am selben Abend. Vor dem Gehen bat ich seine Köchin, heißen Gewürzwein vorzubereiten. Er war für die Therapie nicht unabkömmlich, aber er würde dabei helfen, Rudger sanft in den Schlaf hinüber zu führen und seine große Angst vor dem Einschlafen, die in unserem Gespräch offenbar wurde, zu dämpfen.
***
Schon um die sechste Stunde erreichte uns ein Dienstjunge der Familie Mersingen in unserer Herberge "Ochs und Rabe". Mitten im Gastraum wollte er herausplatzen und über Rudger reden, bis ich ihn rasch bremste und seine Lautstärke dämpfte. Der Junge hatte dennoch die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf uns gelenkt. Auffällig war dessen wappenrock, der einen Löwen zeigte. Ich kannte das Wappen jedoch nicht und als ich den Dienst ungen beschwichtigte, schweifte seine Aufmerksamkeit wieder ab.
Alles war vorbereitet - das hatte der Junge uns mitgeteilt - und wir trafen vor unserer verabredeten Zeit ein. Ich leitete ein vorbereitendes Gespräch über die Jagd ein, da uns der geplagte Herr von Mersingen in seinem Trophäen geschmückten Jagdzimmer empfing. Ich ruhig hatte dazu mit Weihrauch und etwas Ilmenblatt. Sowohl letzteres als auch der warme gewürzwein taten ihre beruhigende Wirkung. In so kurzer Zeit, wie ich es noch nie erlebt hatte, fielen dem Mann die Augen zu. Er war schon auf dem Weg in Bishdariels Gefilde, als wir ihn die Treppe hoch und in sein Schlafgemach führten.
Zuerst wachte Donna Rahjadis über seinen Schlaf. Als sie mich weckte, konnte sie mir berichten dass Rudger bis dahin ruhig geschlafen hatte. Das erleichterte mich. Ich übernahmen die Wacht an der Seite von Rudgers Bettstatt. Alles blieb ruhig, doch noch etwa einem stundenglas hörte ich ein Geräusch. Es kam vom Fenster. Ich blickte auf und mir starte ein übergroßes, gänzlich weißes Auge entgegen. Das Auge eines Raben. Er war blind. Er blickte zwischen mir und dem schlafenden hin und her, schlug mit den Flügeln und trug man den Geist auf seinen Schwingen mit sich.
Ich schrieb diese Vision vom Todeswall und vom Heerlager am nächsten Tag in meinem "Buch der Träume" nieder.
Ich erwachte schlagartig. Die ersten Sonnenstrahlen fielen duch das Fenster, in dem selbstverständlich kein Rabe saß. Mein erster Blick galt Rudger. Er hatte die Augen offen und sagte verwundert: "Ich konnte schlafen! Ich fühle mich wie neugeboren." Er strahlte mit der Praiosscheibe um die Wette.
Donna Rahjadis und ich schliefen noch ein Weilchen und nahmen dann, gemeinsam mit Rudger von Mersingen, das Frühstück ein. Zusammen mit ihm schien der gesamte Haushalt aufzuatmen.
Mit diesem sofortigen Therapieerfolg hatte ich nicht gerechnet. Der Bann war schon jetzt gebrochen.