"Sag, Schwester Noiona, wie steht deine Kirche eigentlich zu alchimistischen Mitteln gegen den Schlaf?", frage mich Donna Rahjadis.
"Sie sollten nur sehr umsichtig und mit gutem Grund eingenommen werden", antwortete ich. "Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, man würde mit ihnen dem Herrn Boron ein Schnippchen schlagen. Der Herr des Schlafs holt sich das, was ihm zusteht. Immer." Nach ein paar Schritten ergänzte ich: "Wenn solche Mittel zu lange eingenommen werden, kann das bleibende Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen nach sich ziehen. Und es schadet dem Geist immens, wenn er längere Zeit nicht zur Ruhe kommen kann."
Meine Erwiderung stellte die Grandessa zufrieden und bestärkte sie in einem Entschluss. Auf dem Weg zum Schuldturm zweigte Rahjadis in das Viertel der Alchimisten, nach Zollmarktey, ab. Paske schloss sich ihr zu ihrem Schutz an.
Alondro und ich setzten den Weg zur Trollenwarte fort. Bei meinen längsten Schritten raschelte der Brief in meiner Hosentasche und versicherte mich seiner Gegenwart. Wie gewöhnlich hielt ein Drachengardist vor der Zugangstüre Wache. Wie gewöhnlich trug er den auffälligen Helm in Form eines Drachenschädels, welcher der Drachengarde ihren Namen gab. Seine Stimme klang hohl daraus hervor, als er Alondro und mich einließ, nachdem der Jäger ihm das Schreiben mit dem Siegel der Nekromantengilde unter die Drachennase hielt. Ein zweites Mal leistete es uns hier gute Dienste und er ließ uns passieren.
Alondro blickte noch einmal zur Tür, als sie hinteruns ins Schloss fiel. Hatte er etwas gehört? Ich frage nicht nach, weil ich zu aufgeregt war, nun, da wir so kurz vor der neuerlichen Begegnung mit der gefesselten Seele waren. Und hoffentlich ihrer Befreiung, bei Boron!
Alondro hörte ihn wegeilen, doch er wandte sich bloß mit einem Schulterzucken ab und kam mir hinterher.
Ich eilte die Treppenstufen nach oben und ärgerte mich nur ein bisschen über die nutzlose Handbewegung, mit der ich meinen Robensaum anheben wollte. Keine Illusion hielt uns diesmal zurück. Wir erreichten die Turmspitze.
"Ingalf! Ingalf Grünacker! Wir sind zurückgekehrt. Zeige dich und es soll dein Schaden nicht sein. Ganz im Gegenteil", flüsterte ich heiser vor Aufregung. Mein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Besorgnis, Glück und Unsicherheit.
Wie aufziehender Nebel ballten sich weiße, durchscheinende Schleier zu halbdurchsichtigen Schwaden zusammen, wirbelten träge wie unter Wasser und formten sich zur Gestalt eines Mannes. Auch in seinem Gesicht war keine eindeutige Emotion erkennbar, zu dunkel und veränderlich waren seine Formen.
"Hier bin ich!", hauchte es kalt durch meine Gedanken. Er klang nicht erfreut. Ich war mir sicher, dass er sich an uns erinnerte - und an die Lüge, die wir ihm über unsere Zugehörigkeit zur Nekromanten-Gilde aufgetischt hatten.
Darum schlug ich einen sanften, versöhnlichen Ton an: "Bitte schenke uns Glauben und wenn du das vermagst, blicke in meinen Geist. Ich erlaube es dir. Ich bin keine Beschwörerin der Toten, ganz und gar nicht. Sieh, ich trage das Zeichen meines Gottes verborgen, dieser Tage." Nach einem Zug an der Kette um meinen Hals lag das silberne Boronrad in meiner Hand, das ich nunmehr unter der Tunika trug. Vielleicht half es dabei, ihn zu überzeugen, dass ich nicht mehr in der schwarzen, umgenähten Robe vor ihm erschien, sondern in gewöhnlicherer Kleidung. Vielleicht hörte er die Wahrheit hinter meinen Worten. Vielleicht nahm er Einblick in meinen Geist, wovon ich dann nichts spürte. Jedenfalls ließ die Anspannung in der Luft nach.
"Ich glaube dir", wisperte Ingalf hinter meiner Stirn. "Was hast du mir zu sagen?"
"Die Anführerin der Nekromanten ist tot. Corina von Warunk ist zu ihrer unheiligen Herrin gegangen." Als ich es in die Nacht und in seine Richtung sagte, wirbelten die Nebelfäden wie in einer plötzlichen Windböe. Jubel und Häme schlugen mir entgegen und als ich Alondro hinter mir ein Lachen schnauben hörte wusste ich, dass er ebenso empfand. Ingalfs Seele badete in diesem Gefühl.
Dann langte ich in meine Tasche und zog den Brief hervor. Schlagartig hatte ich die ganze Aufmerksamkeit meines unlebenden Gegenübers, denn ihm musste sofort klar sein, was ich da in Händen hielt. Es war, als würde er dem Atem anhalten.
"Möge Golgari dich sicher über das Nirgendmeer geleiten, und Boron dich in Seinen ewigen Hallen begrüßen. Finde endlich deinen Frieden!", murmelte ich und blinzelte gegen das plötzliche Stechen in meinen Augen, als ich das Pergament entfaltete.
"Lieber Ingalf Grünacker, was ich dir schon immer sagen wollte... deine Verlobte hat den Tod gefunden. Das Heer unter Kronfeldherr Boronian von Rabenmund wurde mitsamt ihrer Einheit in ein schmales Tal in den Trollzacken zurückgetrieben. Annita hat sicherlich tapfer gekämpft, denn anders kannte ich sie nicht. Wir waren nur eine Handvoll, die von der unseligen Horde als tot zurückgelassen wurde. Bitte verzeih, dass ich dir ihren Tod nicht persönlich mitteilen kann. Das Reisen fällt mir schwer.
Ich hoffe, diese Gewissheit vermag dir irgendwann Trost zu schenken.
Jalrik Leupert"
Ingals Seele war erstarrt. Und dann ging alles ganz schnell: Ein eisiger Wind hob an, ließ meine Kleidung flattern und erfasste das weiße Wabern von Ingalfs Gestalt. Es trieb ihn himmelwärts und riss mir den Brief aus der Hand. Er flog höher und höher, bis er meiner Sicht entschwunden war, und die gefesselte Seele - befreit von dem Unwissen über das Schicksal seiner Verlobten Annita - ging endlich ein in Borons Hallen.
Ich war so erleichtert, ich lachte leise. Endlich, endlich eine gute Tat, die ich in diesem boronverlassenen Landstrich hatte tun können!
In dieser gelösten Stimmung trat ich an den Rand des Daches. Alondro ließ auch seinen Blick über das nächtliche Altzoll schweifen. Die weißen Raben kreisten über der Stadt und unter uns sah ich Fackelzüge durch die Straßen ziehen. Das Herz zog sich mir in der Brust zusammen. Oh weh. Jemand war misstrauisch geworden. So gründlich, dass sie bereits Gardisten oder eine Miliz oder die Untoten aus den Kavernen auf die Straßen schickten.
Unsere weiteren Vorhaben, die Verteidigung der Stadt zu sabotieren, würden wir nun mit extrem großer Vorsicht in die Tat umsetzen müssen.