Endlich waren wir in Altzoll.
Nun hieß es, eine Unterkunft zu finden. Und einen Plan zu fassen. Wie würden wir am schnellsten und am meisten Informationen über unsere Feinde, den ehemaligen Nekromantenrat Warunks, herausfinden? Donna Rahjadis schlug vor, wir sollten uns um eine Audienz mit Lucardus von Kémet bemühen. Lucardus, der erste Großmeister und Begründer der Golgariten. Der zum Verräter am Orden und am Herrn Boron selbst wurde.
Das wird sicherlich kein leichtes Unterfangen. Uns als Unbekannte ohne jeglichen Leumund wird man bestimmt nicht so mir nichts, dir nichts zum Fürsten dieser...
Mein Gedankengang wurde von Rufen unterbrochen: "Macht Platz! Platz machen, weg da!"
Reiter drängten die Menschen in der Straße beiseite. Sie kamen auf uns zu. Es waren viele, bestimmt zwei Dutzend Stück. Viele von ihnen waren Drachengardisten, aber es waren auch einige dabei, die nicht ihr Wappen trugen.
In der Mitte ritt ein hochgewachsener, hagerer Mann. Er trug eine schwarze Rüstung, die mich an die geschwärzte Plattenrüstung der Golgariten erinnerte. Ich erhaschte einen Blick auf sein eingefallenes, trauriges Gesicht. Dies musste er sein, der Verräter! Hass stieg in mir hoch und bildete einen Klumpen in meiner Kehle, der mir das Atmen erschwerte. Dieser Mann hatte seine Seele aus freien Stücken von Boron abgewandt und sie der Verdammnis übergeben. Es gab keine Umständen auf Dere, die einem Lebenden so viel Verzweiflung eingaben, dass das diese schreckliche Tat gerechtfertigt oder für mich nachvollziehbar wäre. Und ich bin meinen Schwestern und Brüdern und unter anderen Boronis als offenherzige Ordensschwester und Priesterin bekannt.
Falls der Hass aus meinem Blick loderte, so bemerkte der Abtrünnige es, den Göttern sei Dank nicht.
Im Nachhinein packte mich auch, ein bisschen, ein morbides Interesse an Lucardus - der Mann als Paktierer. War sein eingefallenes Gesicht ein Zeichen des Leides, dass er in seinem Leben mitangesehen und verursacht hatte? Trug er Paktmale an seinem Körper? Sicherlich, aber welche? Und womit hatte ihn die Widersacherin des Herrn der Seelen ihn auf ihre verderbte Seite gezogen?
Lange grübelte ich nicht über diese Fragen nach. Ich war froh, dass ich für diesen mächtigen Mann nur ein unbedeutendes Gesicht in der Menschenmenge gewesen bin.
Neben ihm ritt eine Person, die vollständig in ein weites, schwarzes Gewand gehüllt war. Nicht einmal ihre Hände, die die Zügel hielten, waren zu sehen. Ich fühlte mich an mich selbst erinnert und an meine empfindliche, milchweiße Haut. Vielleicht war sie auch eine Albino?
Später teilte Alondro seine Beobachtung mit uns. Er hatte gesehen, dass diese Frau teilweise skelettiert war. Sie war also eine Untote. Mich beschlich ein unangenehmes Gefühl, als ich mich erinnerte, dass ich in ihr an eine Leidensgenossin vermutet hatte.
Die Reiter zogen vorüber und um uns herum nahm das Treiben wieder seinen gewohnten Gang auf. Es war tatsächlich Markttag, wie wir vermutet hatten. Wir schauen uns am Marktplatz nach einer Herberge um und wurden im Gasthaus "Zur alten Weide" fündig. Der Grandessa war dieses Haus aber zu mittelmäßig, sie lehnte ab. Also heuerten wir uns doch einen Jungen als Stadtführer an.
Er führte uns nach Osten, zeigte uns zum Beispiel das Stadtviertel namens Beinwerk. Dort waren die Alchimisten und Nekromanten der Stadt ansässig. Passend zu den knochenliebenden BewohnerInnen und Anwohnern und ihrem magischen Handwerk waren die Häuser hier nicht nur mit den grotesken, beschnitzten Menschenknochen verziert. Viel mehr bestanden die Häuser und ihr Fachwerk zu einem guten Teil selbst aus Knochen. Menschenknochen.
Mir schwindelte, als ich mir beim Vorbeigehen an einem zweistöckigen Haus vorstellte, wie viele Tote in diesem einen Gebäude unbestattet und widrig als Baumaterial missbraucht worden waren.
Unsere Herberge wurde das Hotel "Knochenfaust". Eine Skeletthand über dem Eingangsportal diente als Namensschild. Das gehobene Etablissement lag in bester Nachbarschaft, wenn man unsere Tarnidentitäten als Nekromantin (ich) und skrupellose Alchemistin (Donna Rahjadis) heranzug: Wir hatten den desten Blick auf das monströse Tharg...-Unheiligtum der Stadt. Das Zentrum der spirituellen Niederträchtigkeit zwischen hier und den rechtgläubigen Landen. Es lag direkt gegenüber, vis-a-vis eines kleinen Platzes. An späterer Stelle opfere ich mein gutes Papier, um diese verzerrte Abscheulichkeit an Bauwerk zu beschreiben,
Wir bezogen zwei luxuriös eingerichtete Zimmer. Die Fensterläden bewegten sich ganz ohne Wind und klapperten leise an die Hauswände. Das muss derzeit wohl in Mode sein, unter den höhergestellten Abtrünnigen.
Den restlichen Tag trieben wir uns in der Stadt herum, um uns nach den wichtigsten Persönlichkeiten Altzolls und die neuesten Neuigkeiten zu erkundigen. Bevor Alondro das Hotel verließ, überredete Rahjadis ihn noch mit Alveraniarsgeduld, seine Waffen abzulegen, die er eigentlich gar nicht mehr hätte tragen dürfen. Endlich folgte er ihrem guten Rat und versteckte sie unter seiner Matratze. Mit meinem Traumtagebuch und meiner Abschrift des Schwarzen Buchs bevor ich ebenso. Nicht auszudenken, dass eine Hausmagd beim Reinigen unseres Zimmers zufällig auf meine borongefälligen Schriften stieß und Alarm schlug.
Was wir herausfanden, in Kürze:
Die Stadtvögtin war Arnhild von Darbonia. Sie war Lucardus' rechte Hand und Vorsteherin des Stadtrates. Der Rat musste die Nekromanten der Stadt in Schach halten, damit sie nicht den dienenden Anteil der lebenden Bevölkerung oder jene, welche Ihnen einen Dorn im Auge waren, töteten und als Untote wieder auferstehen ließen.
Ihr Widerpart war Corina von Warunk, die Gildensprecherin der Nekromanten. Ihr und ihresgleichen war es zu verdanken, dass der Boronanger innerhalb der Stadtmauern so ein trauriger Anblick war. Die Wut packte mich erneut mit aller Macht, als ich diesen umgepflückten Acker erblickte. Ein paar Grabsteine lagen wie ausgefallene Zähne auf diesem Feld verstreut, das längst kein Gräberfeld mehr war. Er war leergeplündert.
Der letzte wichtige Name, der uns an diesem Tag genannt wurde, war wiederum der einer Frau: Agrima Vegensen hieß die Vorsteherin aller Zünfte. Sie war eine Handwerkerin und Alchemistin ohne magische Begabung.
Dann schnappen wir ein paar Gerüchte auf. Ich hörte von Unruhen im Nordwesten der Stadt. Man erzählte mir, der Nekromantin Nefina, außerdem von einer Wesenheit im Turm - in dem hohen Turm, den ich beim Betreten der Stadt betrachtet hatte. Wir hatten von arbeiten bei einem Oger und Rahjadiss und ich fühlten uns an eines der Dörfer, die wir auf dem Weg passiert hatten, erinnert. Das Dorf, in dem ich das riesige Oger-Skelett eingesegnet hatte.
Die Al'Anfanerin brachte außerdem einen weiteren Namen mit. Ein Mann namens Iriadon wurde im Stadtviertel Jedanis hochgeschätzt. Man sagte ihr, er wisse viele Dinge und die Menschen würden ihn lieben. Wir werden sehen, ob wir ihn auch für uns und unsere göttergefälligen Ziele nutzen können.