Das Göttinnenurteil
Gleißend hell stand des Götterfürsten strahlend Schild lotrecht über Yeshinna, der stolzen Amazonenfeste. Sengende Hitze staute sich in dem von trutzigen Mauern umgebenen Innenhof, geradeso, als wollte der Herr über die Zwölfe die gewaltige Esse seines göttlichen Bruders an diesem 21. Ingerimm, dem Tage der Waffenschmiede, zum Schmelzen bringen. Die beiden Amazonen traten sich schweigsam und mit unbewegter Miene gegenüber. In einem weiten Bogen um sie herum standen etwa fünfzig ihrer Schwestern, die stumm und andächtig dem Willen Rondras harrten. Kein Laut war zu vernehmen, außer dem Rauschen des Windes, der rastlos durch die Feste streifte, und die allseits spürbare Beklemmung nicht recht verstehen wollte.
Die beiden Frauen waren etwa gleichgroß. Die eine trug ihr schwarzes Haar kurzgeschoren, ihr junger Körper war muskulös und glänzte vom Schweiß auf ihrer Haut. Die schwarzen Augen hatte sie wie versteinert auf ihr Gegenüber gerichtet. Jene hatte blonde Haare, die zu einem Zopf geflochten waren. Ihre Gesichtszüge waren fein geschnitten, ihr Haupt hielt sie erhaben wie eine Königin, ihr stolzer Blick verkündete die Kraft und Unbeugsamkeit einer Leuin, es war Thesia Gilia von Kurkum, die Königin der Amazonen. Noch während sie sich so gegenüberstanden, Gilia hielt Valaring zum Gruße der Göttin gen Alveran gereckt, erhob die Schwarzhaarige mit einem jähen Schrei ihren Amazonensäbel und führte den ersten Streich. Gilia schien überrascht zu sein, da sie leicht strauchelte und nur um Haaresbreite seitlich unter dem Hieb hinweg tauchte, der über ihr wehendes Haar glitt. Ein erschrockenes Raunen durchzog das Rund der Amazonen. Die Schwarzhaarige nutzte die Schwäche ihrer Königin aus, und setzte mit einigen schräg gegen den Oberkörper geführten Streichen nach, die die Tochter Yppolitas mühevoll parierte, während sie in der Rückwärtsbewegung wieder sicheren Tritt fand. Gilia hatte sich nach diesem Augenblick der Unachtsamkeit gefangen. Nun schnellte sie ihrerseits vor, und täuschte ihre Gegnerin mit einer Finte gegen den Waffenarm. Die Schwarzhaarige verstand das Manöver Gilias einen Lidschlag zu spät, was die Königin mit der tödlichen Eleganz einer Raubkatze zu nutzen wusste, als sie Valaring durch die ungeschützte Linke in die Flanke der Amazone schlug. Mühsam beherrscht unterdrückte diese einen Schmerzensschrei, als erstes Blut den staubigen Boden benetzte. Gilia trat einen Schritt zurück, senkte ihre Waffe und blickte mit strengen Gesichtszügen auf ihre Duellantin.
Voller Wut und mit einer ausholenden Bewegung schwang diese jedoch den Säbel Richtung Hals ihrer Königin. Doch Gilia hatte damit gerechnet, dass ihre Gegnerin sich dem Göttinnenurteil aufs erste Blut nicht beugen würde, zu weit war sie bereits von der Sturmleuin tugendhaftem Pfad abgekommen. Wie das Schilf im Winde bog Gilia ihren Oberkörper nach hinten, so dass die Angreifende durch die Wucht des fehlgegangen Schlages das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Ein Raunen ging durch den Innenhof. Gilia verharrte reglos, um ihrer Kombattantin Gelegenheit zu geben wieder aufzustehen. Diese griff jedoch in den Sand und schleuderte ihn tückisch in die Augen Gilias, die sich vor Schmerz mit der Hand durch die Augen rieb. Die im Rund stehenden Amazonen erstarrten. Die Schwarzhaarige stieß sofort nach vorn, und führte einen schweren Hieb gegen das rechte Bein der Königin, um sie zu Fall zu bringen. Doch die blauschimmernde Klinge der Geblendeten fuhr wie ein Blitz dazwischen, und funkenstiebend glitt der Säbel an ihr ab. Mit Tränen in den Augen und dem verschwommenen Bild der Heimtückischen vor sich, erhob sie Valaring, das legendäre Löwenschwert, setzte nach, und trieb die Schwarzhaarige vor sich her. Gilia schritt mit majestätischem Anmut und einer unwiderstehlichen Eleganz voran, so dass augenblicklich alle Zweifel im Rund verflogen waren. Jede Schwester spürte in diesem Moment: So focht nur die Königin der Amazonen, die Auserwählte Rondras!
Gilia kannte keine Gnade mehr, denn Rondras Zorn loderte nun in ihren Augen. Sie führte zwei Finten gegen die Beine ihrer Gegnerin, bei ihrem dritten Streich zog sie Valaring jedoch unvermittelt nach oben, und die Deckung der anderen war durchbrochen. Das Löwenschwert steckte tief in der Brust der Frevlerin, Blut quoll aus ihrem Mund. Ihre Beine knickten ein und sie fiel röchelnd vor ihrer Königin auf die Knie.
»Vergebt mir, Majestät« seufzte sie, während das Leben aus ihrem Leib strömte und ihr Blut den Boden Yeshinnas tränkte.
»Über die Gnade deiner Seele richtet die Donnernde allein«, war das letzte was sie vernahm, als der Wind sich klagend anschickte, den Tod einer Amazone in die zwölfgöttlichen Lande hinauszutragen.
—die Chroniken von Yeshinna, getreulich niedergeschrieben am Tag der Waffenschmiede, 1024 BF