Eine Aufgabe, an die mich meine Pflicht als Dienerin Borons gemahnte, und die uns bei den Ermittlungen in der Stadt helfen kann, zog mich an: Es war wie ein stummer Ruf, der mich zum Schuldturm - zur sogenannten Ogerwacht - zog. Hier war eine Seele als Wächterin gefangen, die in Trauer gehalten wurde, um die Einwohner im Fall eines Angriffs zu warnen.
Dies hatte uns die Drachengardistin verraten, die am vergangenen Abend das Portal bewacht hatte.
Konnte ich diese Seele befreien und ihr Borons ewigen Frieden schenken? Würde das die Aufmerksamkeit der Herrschenden erregen? Konnten wir mit ihr sprechen und hätte ich die Möglichkeit, kurz bevor das Heer der Mersinger eintreffen würde, zurückzukehren und sie zu erlösen?
Mit diesen Fragen im Herzen blickte ich den dünnen Turm nach oben. Donna Rahjadis beredete mit magischer Unterstützung den Drachengardisten, der heute seinen Dienst an der Turmpforte verrichtete. Er ließ uns ein, als er uns als seine vertrauenswürdigen Freunde erkannte, als die ihm die Adepta uns in Erinnerung rief.
Enge, gewundene Treppen führten nach oben. Wir stiegen höher und höher und höher. Irgendwann beschlich mich das Gefühl, dass wir mittlerweile die Höhe des Rabenfelsens in Al'Anfa erklommen haben müssen, doch die Stufen gingen immer noch weiter. War Magie im Spiel? Waren wir in einer Phantasmagorie, einer Illusion gefangen, die uns eine ewige Treppe vorgaukelte? Möglicherweise mussten wir zunächst das Vertrauen der Seele gewinnen, bevor sie uns zu sich vorließ. Oder es waren andere Schutzmechanismen in Kraft, auf die die Seele keinen Einfluss hatte. Doch ich probierte es und verkündete leise: "Wir sind ohne List und Hintergedanken hier! Wir wollen dir helfen."
Meine Stimme verhallte. Nichts veränderte sich, während wir weiter die Stufen erklommen. Doch dann beschlich mich ein Gefühl, das vorher nicht dagewesen ist:
Jeder Tag ist wie der vorherige Tag... Jeder Tag gleicht dem Vortag wie ein Ei dem anderen... Die Routine währt ewig... ewig... Jeder Tag ist dem anderen gleich... jeder Tag... jeder Tag...
Ich lenkte meine Gedanken auf das, was ich in diesem Moment fühlte, um den ungebetenen Eindringling in meine Gefühle zu verbannen: Auf meine Oberschenkel und Waden, die vor Anstrengung brannten. Der fremde Eindruck ebbte ab. Jeder neue Tag als eine Wiederholung des vorherigen Tages zu erleben - das war eine Bestrafung, einer Folterung gleich. Nicht nur ihre an Dere gebundene Existenz, auch dieser Eindruck, der vermeintlich von der Wächter-Seele kam, spornte meinen Wunsch an, ihr zu helfen.
Am nächsten Treppenabsatz hatte ich eine Idee: Wenn dies eine Illusion war, dann konnte sie nicht all unsere Sinne täuschen. Das hatte ich einmal in einer Abhandlung über diese Spielart der Magie gelesen. Ich glaube, es war das Liber Methelessae in einer Bibliothek der arkanen Universität in Punin... Aber ich schweife ab. Ich erprobte meinen Tastsinn, verschloss meine Augen vor der soliden Wand, die ich vor mir sah, und streckte die Hände aus. Und - oh Wunder! - ich erspürte ein Fenstersims und kühles Butzenglas unter meinen Fingerspitzen. Nun war der Bann für mich gebrochen, ich sah immer noch die Mauer, aber ich erkannte, dass sie nur ein Trugbild war.
Mein Erkennen gereichte auch meiner Begleiterin und meinen Begleitern zu ihrer eigenen Erkenntnis.
Endlich erreichten wir das Ende der Treppe und stiegen durch eine Falltüre auf die Plattform auf dem Dach des Turmes. Der Blick auf Altzoll, das uns zu Füßen lag, raubte uns einen wunderbaren Moment lang den Atem. Donna Rahjadis fand vor mir ihre Sprache wieder. Bevor ich meine Worte an das Nichts richten konnte, mit denen ich noch einmal unsere Hilfsbereitschaft versicherte, hatte sie das Wort ergriffen und stellte uns als Abgesandte der Nekromantengilde vor. Wir seinen geschickt worden, um bei der Seele nach dem Rechten zu sehen. Dies tat mir in meiner Seele weh, aber Unrecht hatte sie nicht. Auch diese gefesselte Seele konnte uns den Machthabern dieser Stadt verraten, wenn wir ihr unsere wahren Identitäten verrieten. Und Donna Rahjadis' Ansprache zeigte Wirkung: Über den Ausblick auf die Stadt und den Anblick meiner Gefährten schob sich eine Vision, die die gefesselte Seele uns zeigte:
Drei Nekromanten kreisen mich ein - einer von ihnen ist eine Frau, als einzige Person ist ihr Gesicht erkennbar. Sie gebart sich herrisch und hat einen Gegenstand in der Hand. Er ist... unkenntlich.
Die Seele verschleierte den Gegenstand, doch - diesmal ganz ohne den Einsatz ihres Zaubers - überredete Donna Rahjadis sie, ihn uns zu zeigen. Widerwille und Abwägung schlagen uns entgegen, doch die Seele zeigt uns, dass es ein Brief ist.
"Lieber Ingalf Grünacker, was ich dir schon immer sagen wollte..." Bevor wir den weiteren Brief sehen, legt sich die Hand der Nekromantin über die Schrift. Ein enormer Siegelring steckt an ihrem Finger. Ein schillernder Onyx, mit Knochen eingefasst. Die Buchstaben CVW sind in ihn eingraviert.
Corina von Warunk! schoss es durch meinen Kopf. Die Erz-Nekromantin Altzolls.
Die Vision endete. Mit leichtem Schwindel und dem Gefühl, das von der Seele auf uns abfärbte - das Gefühl, betrogen worden zu sein - kehrte unsere Sicht auf Dere zurück. Nicht der Betrug, den wir der Seele angetan hatten, davon wusste sie nichts. Sondern der Betrug, den die Nekromanten unter Corina von Warunk ihr zugefügt hatten. Und sie damit vermutlich hier gefangen hielten.
Mit beißendem Gewissenkonflikt, dass ich diesen Schwindel so stehen ließ, kehrten wir an den Fuß des Turms zurück. Ich schwor mir, dass ich für den ewigen Frieden dieser Seele, der Seele von Ingalf Grünacker, sorgen würde!
Der Gardist, den Donna Rahjadis bezaubert hatte, war mittlerweile argwöhnisch geworden. Als wir gingen, musterte er unsere Gesichter aufs Genaueste.