
Paktierer oder Priester?
Tijakon hatte uns in seinem geräumigen Haus alleine gelassen. Es dauerte nicht einmal ein Viertel eines Stundenglases, bis Rahjadis sein Studierzimmer durchsuchte - den einzigen Raum, zu dem er uns zum Zutritt verboten hatte. Zugegeben, die Adepta Grandessa war darin nur wenig schneller als ich. Einzig Paske war unwohl dabei und der bestand darauf, den Windfang im Auge zu behalten und dort, im Erdgeschoss unter uns, Wache zu halten.
Wir fanden das, was in der Büchersammlung eines Mannes seiner Profession zu erwarten war: Werke über den freien Willen und Literatur zu Totenbeschwörung. Ein paar Bände zu Dämonologie.
Ich warf einen prüfenden Blick in das Buch, das aufgeschlagen auf dem Lesepult lag. Es war ein Foliant, der im offenliegenden Kapitel von "Thargonitoth-Priestern" berichtete. "Priester", diese kirchliche Bezeichnung, in diesem götterlästernden Werk? Meine Aufmerksamkeit war gebannt. Vermutlich waren damit die besonderen Kräfte eines Paktierers gemeint. Ich wollte meinem Geist jedoch mit meiner Vermutung keine Scheuklappen anlegen, die mir anderslautende Kräfte oder Wirkweisen verbergen würden. Ich las weiter und stellte fest, dass es ein Ritual war, welches das Wirken von diesen unheiligen Thargunitoth-Priestern mit bestimmten Zaubern, die von der Domäne der Erzfeindin Borons dämonisch durchseucht waren, verband. Mithilfe von diesem Ritual hatte er scheinbar auch sein Pferd zum Unleben erhoben.
Eine Gänsehaut kroch mir eiskalt den Nacken empor, als ich mich unwillkürlich fragte, ob wir diesem falschen Priester - oder der Priesterin - hier in Bleichau begegnen würden und ob ich die Stärke und die Gefühlskälte besitzen würde, dieser Person gegenüber meine Deckung als Nekromantin aufrecht zu erhalten. Denn bei dem Gedanken, der Herrin der heulenden Finsternis huldigen zu müssen, um die Tarnung von uns allen zu wahren, widerstrebte alles in mir. Ich wusste es, bei Boron wusste ich es, dass ich so weit nicht gehen konnte.
Rahjadis hatte ihre fachliche und persönliche Neugierde befriedigt. Sie schlug vor, dass wir die Annehmlichkeiten eines festen Dachs über dem Kopf und richtiger Betten ausgiebig nutzen und uns früh auf unser Zimmer zurückziehen. Doch ich konnte noch nicht an Ruhe denken. Die gebrochenen Augen der Bleichauer Zombies, die toten Lippen, die Worte vorgebracht hatten als würde trockenes Pergament zum Sprechen anheben - diese Begegnung bei unserem Empfang im Dorf bis hin zu jenem ungelenken Gang, der die Untoten preisgibt, die schon ein paar Wochen im Verfall begriffen sind, von denen, die uns auf unserem Weg zu Tijakons Zuhause passiert hatten... Diese Bilder, Klänge und sogar Gerüche drängten sich mir wieder auf und wischten mit der Unruhe, die sie verursachten, meine Müdigkeit mühelos beiseite.
Die Nacht hatte die Dorfstraße vor den Fenstern mittlerweile in tiefes Schwarz gehüllt. Manchmal liefen einzelne Passanten vorbei. Nun müsste es möglich sein, in aller Heimlichkeit wenigstens einen einzigen der Seelenlosen in Borons Namen in den ewigen Frieden zu gewähren!
Ich beredete sie so lange, bis sie einwilligte. Rahjadis und auch Paske, natürlich, würden mich begleiten. Leise brachen wir auf und zogen die Türe hinter uns ins Schloss. Ein leiser Hauch strich über mein Gesicht und in meiner Hochstimmung, voll der stillen Freude, dass ich endlich ein gutes Werk vollbringen konnte, das direkt und ohne Täuschung die Prinzipien meiner Kirche auf deren umsetzte, da war mir, als wäre es die Hand meines Herrn Boron, die sachte über meine Wange strich.