Die Mauer, die lebt
Donna Rahjadis versenkte sich weiter in ihre magische Analyse, ganz in ihrem Element als Frau der akranen Wissenschaften. So hatte ich sie bislang noch nicht erlebt, aber mir gefiel, wie ruhig und konzentriert sie der Aufgabe nachging, die sie sich gestellt hatte. Bevor sie sich mit ein paar Handbewegungen auf einen langwierigen Zauber einstimmte, erklärte sie mir, dass sie eine Handvoll Bausubstanz aus der Mauer dieses Raumes schmelzen wolle. Auf diese Weise würde sie mehr über die Strukturen erfahren, die dieses magische und dämonisch verseuchte Bauwerk durchzogen.
Der Sand eines Stundenglases wäre zur Hälfte herabgerieselt, als sie ihren Versuch beendete. In Händen hielt sie eine Kugel aus dem Gestein des Kastells. "So sind auch diese Wände entstanden", tat die Grandessa kund, "mittels Magie."
Sie hatte keine Zeit für weitere Ausführungen, denn urplötzlich wurde die Tür aufgeworfen. Wir wurden entdeckt! Vor Angst verkrampfte sich mein gesamter Körper, starr vor Anspannung konnte ich nur mit aufgerissenen Augen in das plötzliche, verhältnismäßig helle Licht starren. Es war nicht die Falltüre, durch die wie hereingekommen waren, sondern die einzige Türe, die noch im Raum ist - der Zugang zur Mauer. Mein Weihrauchfass brannte noch, die Kette schnitt mir in die Hand, so kampfhaft hielt ich sie fest. Frei von Furcht war ich nicht, das gestehe ich zu meiner Schande, aber... Wenn ich hier und jetzt von Untoten, von Skeletten, von lebenden Toten niedergestreckt werden sollte, würde ich es mit einer Lobeshymne auf Boron auf den Lippen tun!
Ein kleines Wesen, ungefähr einen halben Schritt groß, trat in den Raum. Erstaunte und schreckensgeweitete Augenpaare richteten sich auf die Gestalt, die aussah wie ein wandelnder, zum Leben erweckter Steinhaufen. Er ging zielstrebig zu Donna Rahjadis, doch bevor Ritter Paske sein Schwert heben konnte, hatte es bereits seine Hände an das Loch in der Mauer gelegt und füllte es mit bloßen Händen mit Material aus seinem eigenen Körper wieder auf. Er verlor seine Hand, arbeitete sie einfach - kurzerhand - als wäre sie weicher Mörtel in das Mauerwerk ein.
Ich atmete auf, während Erleichterung meinen Körper durchströmte. Meine Knie zitterten. Heute würde ich wohl noch nicht vor Boron treten. Durch die Tür sehen wir das diesige Tageslicht, wir sind auf Höhe der Mauerkrone. Von den Skeletten stand keines im Zwielicht.
Der Baugolem ging wieder, unbehelligt ließen wir ihn ziehen.
Und folgten ihm, nachdem wir uns kurz von unserem Schrecken erholt hatten. Zumindest Littia, Weso und ich nahmen uns einen Moment zum Durchatmen. Die Mauerkrone war breit, wohl an die vier Schritt. Ein jStück weiter vorne war noch der Golem auszumachen. Er stand nahe an einer der Zinnen und als wir uns ihm näherten sahen wir, dass er sich eine neue Hand aus einem Stück der Mauer formte. Schnell war er wieder vollständig - zwei Beine, zwei Arme mit Händen, ein Kopf - und verschwand zu einem unbekannten Ziel, die Mauer entlang.