Das leidende Land
Wir standen zwischen den Zinnen des Todeswalls. Ich drehte meinen Kopf zum Himmel und suchte nach der Praiosscheibe. Ihr schwacher Schimmer zwischen dem dichten Wolkengrau verriet mir, dass es zwischen der zweiten und dritten Nachmittagsstunde war. Feiner Nieselregen sprühte in mein Gesicht und benetzte meine Haare. Ein jäher Wind warf mir eine weiße Strähne in die Augen. Die Windböen heulten. Es klang nicht nach Wind, vielmehr nach einer körperlosen, klagenden Stimme.
Wir ließen uns von den wenig einladenden Umständen nicht unterkriegen und gingen auf dem Wall voran. Der Bewuchs erregte Donna Rahjadis' Aufmerksamkeit: Eine Rankpflanze wucherte dicht an Mauerwerk empor. Wir besahen sie genauer - es war kein Efeu, wie ich auf den ersten Blick dachte. Die Blätter hatten eine andere Form, die mir bekannt vorkam. Doch ich entsann mich nicht, zu welchem Bild in den botanischen Werken, die ich im Kloster gelesen hatte, diese Pflanze passte. Rahjadis fand jedoch eine Erklärung: Es war Blutblatt, das sich unter dem dämonischen Einfluss verändert und verformt hatte. Blutblatt... Ich kannte es als Pflanze, die eine besondere Verbindung zu magischen Orten hatte. Sie wächst gerne an Orten mit astraler Kraft. Diese knotigen Ranken waren mit spitzen, mehr als fingerlangen Dornen bewehrt. Von solchem Blutblatt hatte ich noch nie gehört. Die Al'Anfanerin zückte ihren Dolch und schnitt mühselig ein noch nicht verholztes Ende einer Ranke ab. Ich sah es in ihrer Hand und plötzlich zuckte es wie der frisch abgetrennte Schwanz einer Eidechse! Das zuckende Ende peitschte ihr ins Gesicht, wo es einen blutigen Kratzer hinterließ. Kleine Blutstropfen perlten auf ihrer Haut, doch die Verletzung ging nicht tief. Rahjadis hob die Ranke dennoch - oder gerade deswegen - für eine spätere, eingehende magische Analyse auf. Peraine sei dank, dass sich der Pflanzenteil nun nicht mehr regte.
Ogerwall und Todeswall
Wir gingen weiter auf der Mauer. Dieser Teil machte einen unaufgeräumten Eindruck. Säcke lagen an den Mauerwänden und verströmten fauligen Geruch. Es zeigte sich, dass es von altem Korn stammte, das dort unter freiem Himmel vergammelte. Wer hat es hier gelagert? Die Untoten brauchen es natürlich nicht, überlegte ich. Laut Gernot von Mersingen, so entsann ich mich, war der Wall vor 16 Götterläufen zum Schutz gegen Borbarads Schergen genutzt worden. Erbaut worden war er jedoch bedeutend früher. Ich kramte in meinem Geschichtswissen und mir fiel ohne langes Nachdenken ein, dass dieses Bauwerk, das wir am besten unter dem unrühmlichen Namen "Todeswall" kennen, als Ogerwall im Jahre 1003 in der Ogerschlacht genutzt wurde. Doch wiederum lange davor schon hatte diese beeindruckende Mauer existiert. Während des Drachenkriegs, als die Drachen herrschten, war sie der einzige Durchgang vom Osten des Kontinents nach Zentral-Aventurien.
Nach einiger Zeit stießen wir auf ein merkwürdiges Holz-Gebilde mit vielen Spitzen. Es erinnerte mich an einen kugeligen Kiefernzapfen oder eine schuppige Hopfendolde. Erst, als Ritter Paske mich darauf hinwies, erkannte ich, dass eine Belagerungswaffe in dieser Konstruktion verkeilt war. Das sonderbare Ding umschloss die Zinnen und die gesamte Breite der Mauer wie eine dornige Knospe. Rahjadis analysierte es, diesmal nicht magisch, sondern per Augenschein. Sie kam zu dem Ergebnis, dass das Holz-Konstrukt dysfunktional wirkt, als hätte ein Geisteskranker sie gebaut. An diesem Folgeschluss konnte ich als Seelenheilkundige nichts aussetzen... jedoch habe ich weder Wissen in der Baukunst noch in Sachen Belagerungsgeräte.
Es war ein Akt großer Konzentration und Umsicht, uns zwischen den Holzspitzen und der mutmaßlichen Belagerungs-Konstruktion hindurchzuwinden, damit wir auf der Mauerkrone weiterkamen. Doch ich denke, es gelang uns allen, ohne uns Spreißel einzufangen und sicherlich, ohne dass wir eine Maschinerie in Gang setzten, die besser ruhen blieb. Eine Treppe war knapp hinter dem rätselhaften Ding in den Boden eingelassen. Ein Rundumblick offenbarte uns, dass die Landschaft hier wieder eben war. Wir hatten das Vorgebirge hinter uns gelassen. Das Land ist aschefarben (was ich aufgrund meiner besonderen conditio nicht sehen, aber aus den trostlosen Mienen meiner Begleiter ablesen konnte) und trist. Die Treppe brachte uns auf die andere Seite.
Jetzt gab es nichts mehr zu deuteln: Wir waren in den Schwarzen Landen.