nach korazar krame ich auch mal eine geschichte (eine sehr-kurzgeschichte) raus... sie ist alles andere als fertig, aber da sie mittlwerweile schon etwa eineinhalb jahre auf meiner festplatte rumgammelt, hat mich doch die inspiration verlassen, ohne daß ich ihr besonders nachtrauern würde. vielleicht gefällt sie ja trotzdem jemanden...
linie 16
„gleis 1 ... linie 16 nach köln-buchheim ... über wesseling“ verkündet eine blechern monotone frauenstimme während ich die rolltreppe am bonner hauptbahnhof runter gerannt komme. die „pünktlichkeitsoffensive der bahn“ macht es mir jeden morgen schwer, meine s-bahn noch zu erreichen. vielleicht sollte man das an universitäten übliche „cum temporae“ auch bei zeitangaben von nahverkehrs-fahrplänen verwenden.
ich schlängele mich durch alte leute, schulkinder und männern mit klobigen aktentaschen hindurch, die einen großteil des bahnsteigs einnehmen. hinter mir schnappen die türen der s-bahn zu während ich mich nach einem sitzplatz umschaue. straßenbahn-fahren ist eine interessante sache. man trifft bisweilen merkwürdige leute, wobei man nicht immer angenehme überraschungen erlebt. aber gerade diese schaffen es, ein gesteigertes maß von interesse auf sich zu ziehen.
* * *
auf der gegenüberliegenden seite sitzt eine alte frau. die typische nette alte dame, freundlich, unauffällig. gerade steigt eine frau um die vierzig zu und nimmt neben ihr platz. kurze dunkle haare, hager, ja, man möchte fast soweit gehen von „alter bausubstanz“ zu sprechen. ein anliegendes, bordeauxfarbenes kleid spannt sich wie eine zweite haut über ihren körper, an der hüfte wellt es sich leicht. die schwarze federboa, die über ihrer schwarzen ledertasche liegt, windet sich wie eine exotische schlange dem boden entgegen.
„das ist aber ein schöner stein“, meint die alte frau, nicht ahnend, dass sie ihr schicksal für die nächsten sechs stationen besiegelt hatte.
„echtes bergkristall“, antwortet die mittvierzigerin und deutet auf den geschliffenen kristall mit fünf zentimeter durchmesser, der an einer filigranen goldkette um ihren hals hängt.
und auch sonst macht diese frau eher den eindruck, ein roter straßenbahn-fahrender tannenbaum zu sein, wäre die boa nicht schwarz, sondern lamettafarben gewesen: breite goldringe an jeder hand – manche mit steinem, manche ohne – und perlenbesetzte ohrringe dekorieren ihre gestalt.
eine frau wie aus einer edleren zeit, wären da nicht das unpassende kleid, die boa und ihre leicht vorstehenden gelblichen raucherzähne gewesen.
der rote tannenbaum kramt in seiner tasche und fördert eine grüne flasche stilles geroldsteiner zu tage.
„möchten sie einen schluck trinken?“
die alte frau wird aus der stille gerissen. nein danke, sie sei nicht durstig.
„na ja, ich eigentlich ja auch nicht, aber es ist ja so wichtig, viel zu trinken.“
sie nimmt einen tiefen schluck aus der flasche.
jaja denkt sich die alte frau. recht hat sie.
„und gerade da ich momentan starke medikamente nehmen muss ... da ist es für mich besonders wichtig. deswegen habe ich immer eine flasche dabei.“
soso denkt die alte frau höflich uninteressiert.
„ach, das tut mir aber leid für sie“
„na ja, da kann mal halt nichts machen.“
nein. machen kann man da nichts.
* * *
heute bleibt die ansage stumm. und auch die folgenden tage. vielleicht ist der stadt bonn das geld dafür ausgegangen, oder die blecherne frau hatte keine lust mehr s-bahnen anzukündigen und findet nun wo anders erfüllung, vielleicht beim hörfunk.
selbst der text im display ist verschwunden ... „bitte zugbeschilderung beachten“ steht da jetzt.
keine ansage - und auf dem gelbbraunen display keine bahn-nummern mehr. die blecherne frau ist gegangen und statt ihrer herrscht nun leere über dem bahnsteig. meine bahn kommt.