Ankunft in Alt-Bergenbach
Die zwei Jäger waren sich bewusst, dass wir ihre Leben vor einem verfrühten Ende durch die untoten Hirsche bewahrt hatten. Sie boten an, das gammlige Fleisch der Kadaver mit uns zu teilen. Rahjadis und ich waren beide ähnlich entsetzt – vor allem, als Allondro annahm. Was hatte er damit vor? Wollte er es wirklich essen? Ich nehme an, dass er es lediglich als Statussymbol mitgenommen hat.
In Alt-Bergenbach war die Not der Leute deutlich sichtbar. Die Menschen waren mager, hungrige Blicke folgten unseren Pferden und den halbverwesten Teilen der Hirsche. Der Dorfvorsteher Berengar Faller nahm uns rumpelnd in Empfang und forderte zwei Hirschschenkel als Wegzoll. Allondro versucht ihn einzuschüchtern, doch der Mann ließ sich nicht unterkriegen. Ich konnte diesem "Verlust" nicht hinterhertrauern. Und wenn ich schon vorher Allondros Beweggründe nicht zur Gänze nachvollziehen konnte, so überraschte mich das, was er jetzt tat, noch mehr. Nein, es entsetzte mich regelrecht. Während Allondro mit Faller um das stinkende Hirschfleisch verhandelte, hatte sich unbemerkt ein Mann an uns herangeschlichen. Wir wurden erst auf ihn aufmerksam, als er von uns wegrannte, mit einem der Hirschbeine in den Händen. Da zückte unser Jäger seine Wurfaxt und im nächsten Augenblick schon hatte sie seine Hand verlassen und versenkte ihre Schneide in der Wade des hungernden Mannes. Sein Schrei gellte doch das Dorf, doch jeder der aufblickte, wandte sich ebenso schnell wieder ab. Dass ich mich als Totenbeschwörerin verkleidet hatte, hieß schließlich nicht, dass wir Grausamkeiten gutheißen oder gar vollbringen mussten. Meine Erschütterung über diese Grausamkeit verstand Allondro nie. An diesem Abend schloss ich ihn in mein Gebet ein, indem ich die Götter darum bat, dass sie ihn auf den Pfad der Gerechten zurückführten.
Berengar Faller, der Dorfvorsteher, war ihm jedoch dankbar. Überschwänglich verkündete er, dass wir auf seine Kosten übernachten würden, entweder in einem Nebenraum der Taverne "Knochenhütte" - seiner Aussage nach eine verranzte Kaschemme -, wie er sich ausdrückte, oder im ”Kalten Alrik", einer mittelmäßigen Herberge. Für die Grandessa war die mittelmäßige Herberge fast gleichbedeutend mit der verranzten Kaschemme, doch unsere Wahl war eindeutig.
Auf meine Frage hin gab mir Berengar Auskunft, dass sie den verletzten zur "Grube" und zum ”dicken Bruno” bringen würden. Mein Interesse war geweckt, doch ich hatte noch nicht so viel Vertrauen in meine Verkleidung, als dass ich viel nachfragen wollte. Mit Blicken vergewisserte ich mich jedoch, das Rahjadis meine Aufmerksamkeit bemerkte. Als ich anbot, den verletzten Mann dorthin zu bringen, schlossen sie und Paske sich an. Nur Allondro wählte wieder seinen eigenen Weg. Er verkündete, dass er zur Unterkunft vorausgehen würde.
Mit ein wenig Überredungskunst ließ uns Berengar ziehen.
in der Grube
Der Boden im unterirdischen Gang war leicht abschüssig. Es roch nach Erde. Nach wenigen Schritten war es stockdunkel, sodass wir die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnten. Donna Rahjadis brachte magisches Licht ins Dunkel. Es enthüllte einen Pflock, der eine Kette im Boden hielt, an deren anderem Ende leere Fußeisen befestigt war. Ein Stück vor uns schimmerten in dem bläulichen Licht Knochen. Ein anatomisch korrekt angeordnetes Skelett von riesigen Ausmaßen. Ich sah den Schädel: Nasen- und Mundpartie waren stark ausgeprägt, die Brauenwulste waren viele markanter als bei einem Menschenschädel. Alle Knochen waren größer als menschliche Knochen. Die Kreatur muss in ihrem Leben ein Vielfaches eines üblichen menschlichen Gewichts gewogen haben.
Rahjadis und ich dachten dasselbe, und zwar über mehrere Gedankengänge hinweg. Wir kamen zum gleichen Schluss und auf den gleichen Weg, dieses Problem zu beheben. Gleichzeitig öffneten wir den Mund, sahen uns an und sagten unisono: ”Haben Oger Seelen?”
Ein Oger passte hervorragend zur Form und Größe dieses Skeletts und wenn Oger eine Seele besaßen, dann konnte ich diese ruhelose Kreatur in Borons Arme schicken. Ganz knapp verglichen wir unsere Betrachtungen zu anderen, nichtmenschlichen kulturschaffenden Wesen und ob Oger kulturschaffend seien - oder es einst waren - und kamen zu dem Schluss, dass ich es in Borons Namen versuchen würde.
"Höre die Schwingen Golgaris, sie künden von der Ewigkeit... reise über das Meer ohne Widerkehr, das Nirgendmeer schenkt dir Vergessen..."
Im Schlussteil des Ritus' geriet ich ins Stocken, als der blicklose Schädel mich fixierte, aus leeren Höhlen doch eindeutig mich anstarrt und im nächsten Moment mit lautem Getöse in sich zusammenfällt. Boron war mit uns, ich fühlte seine göttliche Präsenz bei uns in dieser Grube, diesem schrecklichen Ort der Folter. Seine Hand hatte die untote Kreatur erlöst. Sein Blick wird noch auf viele Teile dieses Landes fallen und die dämonische Finsternis vertreiben.
Spätestens jetzt musste den verletzten Mann klar sein, dass wir nicht die waren, für die wir uns ausgaben. Donna Rahjadis heilte ihn und ich verpflichtete ihn zum Stillschweigen.
Ebenso dankbar wie eilig suchte er das Weite und floh aus der Grube. Uns hielt hier auch nichts mehr.