Kennt noch irgendjemand das Ultra-Uralt-Abenteuer „Das Grabmal von Brig-Lo?“ Ich habe die Tage mal wieder Lust bekommen, darin zu schmökern. Um es vorweg zu nehmen, ich bin ins Schwärmen geraten, und das, obwohl dieses Heft schon 30 Jahre alt ist. Folgende Gedanken sind mir dabei in den Kopf gekommen, die ich gerne mit euch teilen möchte.
Das Abenteuer erhebt den Anspruch, Metaplot zu sein – als erstes Abenteuer überhaupt. Spannend finde ich dabei, dass es bewusst einfach gehalten ist – lediglich Attributsproben werden verlangt. Gleichwohl erfolgt zu Beginn der Hinweis für all diejenigen, die es komplexer mögen, die entsprechenden Proben einfach durch Fertigkeitsproben zu ersetzen, denn „[e]inem einigermaßen flexiblen Spielleiter sollte es jedoch nicht schwer fallen, die - rollenspielerisch betrachtet – interessanteren Talentproben an Stelle der Eigenschaftsproben einzusetzen“. Dem Verfasser ist es somit wichtig, dass sowohl Spielerinnen, die es gerne komplex mögen, als auch Spieler, die Einfachheit bevorzugen, gleichermaßen auf ihre Kosten an Spielspaß kommen. Diese Einigkeit ist ihm wichtiger als „rollenspielerisch betrachtet – interessantere […] Talentproben“. Ich muss sagen, als ich das gelesen habe – das hat mich sehr bewegt.
Drei vorgefertigte Spieler-Heldinnen und -Helden fallen mir in dem Heft besonders auf. Alle drei haben durchschnittliche Attributswerte von 10,5.
„Alrik vom Fluß“, Krieger aus Brig-Lo. Kein Attribut höher als 12. Konnte nur an die Akademie von Punin, weil die Baronin ein gutes Wort für ihn einlegte. Ein Krieger ohne Besonderheit und ohne Standing.
„Magister Ashfahan Magnus“, Absolvent der Magier-Akademie zu Punin. Negativ herausragende Eigenschaft: Mut 8. Seine Motivation: Das Schlachtfeld von Brig-Lo zu besichtigen, „wo einst Dämonen beschworen wurden“. Ein Magier, der sich für Dämonologie interessiert. Ohne Mut.
„Kim Shasba“, Gauklerin. Motivation: Geld verdienen und Abenteuerlust.
Ein Krieger, dessen Standing darin besteht, kein Standing zu haben. Ein Magier, der keinen Mut hat, obwohl ihn gerade dies zum mutigsten Magier überhaupt macht, den Aventurien je gesehen hat. Und zu guter Letzt die Gauklerin, die auffällt, weil sie nicht auffällt. Ich frage mich, wie viele Krieger bisher durch Aventurien gelaufen sind – und wie viele davon nicht den Mut aufbrachten, ohne auch nur einem einzigen gemaxten Attribut herumzurennen. Ich frage mich, wie viele Magier bisher durch Aventurien gelaufen sind (insbesondere Beschwörungsmagier) – und wie viele davon nicht den Mut aufbrachten, mit einem Mut-Wert von 8 zu beginnen. Ich frage mich, wie viele Heldinnen bisher durch Aventurien gelaufen sind und dabei irgendwelche herausragenden Fähigkeiten, Boni oder Specials hatten – und wie viele dadurch aufgefallen sind, dass sie nicht auffällig sind.
Ich träume davon, dass es irgendwann mal zu einer neuen epischen Story kommt, die diesen Gedanken aufgreift: Einfache Heldinnen oder Helden nicht mit Einsteigerabenteuern abzuspeisen, sondern sie entscheidend in die Geschichte eingreifen zu lassen. Man stelle sich eine Abenteuerreihe im Sinne der Borbarad-Kampagne vor – und alles, was angegeben wird, sind Attribute. Und dann den Zusatz, wer möchte, könne sich seine Kampagne aufmotzen.
Ich träume davon, dass Heldinnen und Helden wie Alrik, Ashfahan oder Kim (wieder) ihren Platz in Aventurien finden. Damit sage ich nicht, dass andere, stärkere Heldinnen und Helden keinen Platz in Aventurien hätten. Aventurien ist groß genug für alle. Das Eine schließt das Andere nicht aus. Aber Alrik, Ashfahan und Kim ist eines bewusst. Zu Beginn ihrer Heldenlaufbahn müssen sie kleine Brötchen backen. Sie sind aufeinander angewiesen und wissen, dass sie nur in der Gruppe überleben können. Außerdem müssen sich die drei nicht der Versuchung aussetzen, ständig ihren Charakterbogen zu überfliegen, welches Special sie als Nächstes anwenden können. Das gibt ihnen zeitliche und emotionale Freiräume, sich ganz auf das Abenteuer einzulassen. Ist ein Spieleabend bei einem Glas Wein, Snacks und atmosphärischer Musik weniger fesselnd, wenn man eben nur mit 5 statt 8 Attributen und einem Haufen Fertigkeiten spielt? Wird deshalb weniger gewürfelt? Vielleicht ja. Dafür haben die Würfe, die gewürfelt werden, eine umso größere Bedeutung.
Was mir wirklich wichtig ist: Ich will Alrik, Ashfahan und Kim nicht gegen andere Heldinnen und Helden ausspielen. Gleichwohl will ich ihnen eine Stimme geben, ihnen Gehör verschaffen. Es gibt mittlerweile unzählige Regelbücher mit x Regeln, in denen es heißt: Was dir zu viel ist, kannst du weglassen. Und das ist gut so.
Und dennoch träume ich davon, dass es einmal, wenigstens ein einziges Mal, anders herum ist. Ich träume davon, dass eine epische Kampagne herauskommt, eine Kampagne, in der es nur zu Attributproben kommt und in der es heißt: Was dir zu wenig ist, kannst du hinzuerfinden. Und das ist gut so.
Nur Attributproben. Ein merkwürdiger Gedanke. Positiv formuliert, ein Gedanke, der es würdig ist, gemerkt zu werden. Ich spinne ihn mal weiter, diesen Gedanken. Kein Powergaming. Kein Ausnutzen der Spielmechanik. Keine Fertigkeitsproben. Keine Qualitätsstufen. Keine Zustände. Keine Sammelproben. Keine Vorteile. Keine Sonderfertigkeiten. Keine Ausnahmen. Keine Ausnahmen von der Ausnahme. Keine Schips. Keine Regeldiskussionen. Keine Rechthabereien. Einfach nur eine Spielgruppe und ein paar Attributproben. Dafür ein tiefes Gefühl des Spielerlebnisses ohne Ablenkung, was als Nächstes gewürfelt wird – und das, auch ohne zuvor Hunderte von Stunden in das Büffeln von Regeln investiert haben zu müssen.
Ich träume von einer offiziellen epischen Kampagne – nur mit Attributen. Ich träume davon, dass Heldinnen und Helden wie Alrik, Ashfahan und Kim (wieder) ihren offiziellen Platz in Aventurien finden und Brig-Lo nicht für immer zu ihrem Grabmal wird.
Ich träume davon, wie ich mit meinen drei Helden gemeinsam am Ufer des Yaquirs entlang schlendere, Hauptmann Leomar vom Berg an uns vorbeireitet, uns dabei wertschätzend grüßt, und der Duft von Mondlieds Schnittblumen meine Nase erfüllt. Es ist Frühling.