Das Orakel im Todeswall
Die Nacht war erstaunlich erholsam, obwohl wir sie diesseits des Todeswalls verbrachten. Wir hatten ein Dach über dem Kopf und ein Bett. Ja, und die beiden Kundschafter und Ritter Paske insistierten, dass Donna Rahjadis und ich nicht für die Nachtwachen eingeteilt wurden. So konnten wir durchschlafen. Was ich auch tat, im Gegensatz zu Rahjadis. Sie verließ einmal die Schlafstatt, bekam ich am Rande mit.
Weso erwachte mit kleinen Augen und großen Augenringen. "Morgen kommt das Heer", hauchte er über blasse Lippen. "Wollen wir nicht langsam wieder zurück? ...Versteht mich nicht falsch. Ich mache mir nur Sorgen um meine Schwester!”, beeilte er sich zu sagen. Prompt gab ihm Littia eine schallende, schwesterliche Ohrfeige. “Lass mich da raus!”, fauchte sie.
Weso hatte Angst. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Angst ist eine so ganz und gar menschliche Regung. Zwar sprach er vom Heer, doch was er im Grund fürchtete, waren nicht diese Streiter. Vielmehr war es das Unbekannte, das vor uns lag. Der bedrohliche Dämonenwall, in den wir heute tiefer eindringen würden.
Wir waren angeschlagen vom Kampf mit den Untoten der Brabakerin. Ich kramte in meinen Vorräten an Heilmitteln und förderte eine runzlige, aber noch brauchbare Argen-Wurzel zutage. Donna Rahjadis braut damit einen Argansud. Gerade noch ausreichend war der Saft, der noch in der Knolle steckte. Er sollte für 10 Stunden in einem Lederschlauch ziehen. Danach wird uns - und insbesondere Rahjadis, die noch von der wehrhaften Dornenranke angekratzt war - seine stärkende Wirkung zuteil werden.
Sodann brachen wir auf. Die Nekromantin ließen wir gefesselt am Baum zurück. Wir näherten uns einer Rampe rechts vom Torhaus des Walls,die unter die Erde führte. Paske informierte uns, dass dies im Festungsbau eine Kasematte genannt ist - eine Einrichtugn, die vor Beschuss schützte. Derweil bewegten sich auf den Zinnen kleine, steinerne Figuren, ohne von uns Notiz zu nehmen. Bau-Golems, wie ich vermutete. Wir hatten bereits mit einem von ihnen Bekanntschaft gemacht und es war äußerst harmlos gewesen. Dennoch fühlten wir uns beobachtet. Dann hatten wir die Kasematte erreicht. Die Luft, die uns daraus entgegenschlug, roch muffig und faulig. Das war leider zu erwarten. Wir banden uns Tücher vor die Nase, Rahjadis benutzte ihr teures und schwer in der Luft liegendes Lotos-Parfüm. Ich fühte mich geehrt, als die Grandessa mir auch etwas davon anbot.
Es ging hinein in die Dunkelheit des dämonischen Walls. Paske ging voran, mit gezogenem Schwert. Ich folgte ihm und leuchtete uns mit einer Laterne. Mir folge Donna Rahjadis nach. Weso und zuletzt Littia bildeten den Abschluss.
Ein erratischer Weg führte uns tiefer und tiefer in das Gemäuer. Die Wände waren von den Ranken der dornenbewehrten Blutblatt-Pflanze überwuchert - mal weniger dicht, sodass man die Steinwände sehen konnte, mal über und über, sodass der Lichtschein der Laterne nur auf das Dickicht fiel. Der Gestank verdichtete sich. Ich war froh um das Parfum, auch wenn es eine denkwürdige Mischung aus stehender Fäulnis und betäubendem Lotosduft war, die mir vor der Nase stand. Die Kasematte verbreiterte sich. Ich war wiederum froh - diesmal, aus den engen Gängen zu treten. Wir fanden uns in einer etwa fünf mal fünf Schritt großen, unterirdischen Halle wieder. Sie war zu meinem Erstaunen beleuchtet. Die Ranken hingen hier dicht an den Wänden und spenden einen schwachen Lichtschein.
Um uns aufgereiht standen reglose Skelette. Es war wie in der Bastion. Meine Hoffnung, dass wir deren Schwestern und Brüder dort noch vor der Ankunft des Heeres befrieden würden, schwindet. Es waren einfach zu viele. Viel zu viele.
Zwei Ausgänge führten aus der Halle. Der Gang nach rechts schien, so meinte Littia, Richtung Bastion führen. Der Gang nach links würde uns eher Richtung Torhaus und weiter ins Innere der Mauer führen. Also schlugen wir diesen Weg ein. Der Gang wurde enger und führte steiler nach unten. Ich machte kleinere Schritte und musste immer wieder über Ranken steigen. Mehrmals blieb mein Saum hängen und ich musste ihn befreien. Schließlich mündete der Pfad in einen weiteren, hohen Raum mit noch mehr Ranken. Das, was sich in der Mitte befand, zog unsere Aufmerksamkeit auf sich: Ein baumartiges Ding wuchs dort. Es sieht aus, als würde es aus Stein bestehen. Ab und an wuchs eine Ranke des Blutblatts an ihm entlang. Wir wurden nicht schlauer daraus, außer, dass es sich unserer Kenntnis nach wohl um eine Säule handelte.
Dieser Raum hatte nur einen weiteren Ausgang und so stand unser weiterer Weg fest. Schnell bemerkten wir jedoch, dass es ab hier keinen eindeutigen Hauptweg mehr gab, Die Durchgänge waren alle gleich schmal. Ich nahm wieder meinen Platz hinter Paske ein. Beim Weitergehen bemerkte ich, dass ich die Verzweigungen früher wahrnahm als der Ritter vor mir. Immer wieder musste er inne halten und sich umsehen, wo ich bereits einen Durchgang ausgemacht hatte. Die Dunkelheit ist Borons Reich und meine Augen waren besser an das schwache Licht gewöhnt. Der Ritter und ich tauschten die Plätze. Fortan ging ich voran.
Wir markieren unseren Weg mit Zauberkreide, die ich in meinen Taschen gefunden hatte. Es war ein wahrer Irrgarten. Immer wieder passierte es, dass wir in Wege gelangten, die sich so weit verengen, dass kein Durchkommen mehr war. Nach einer Stunde - das hatte ich im Gefühl - gelangen wir in einen Raum, der mit einer verästelten Steinkonstruktion und den Ranken stark an den ersten Raum erinnerte. Doch er war nicht derselbe. Wir blickten uns um und... plötzlich spürten wir allesamt, dass sich etwas verändert hatte. Ich drehte mich zur Seite und bemerkte, dass sich die Ranken aufeinander zu bewegten, sich miteinander verwob und ein menschliches Gesicht ergab. Es sah interessiert auf uns herab.
Ich fand als erste meine Sprache wieder: “Was bist du?” Die Tentakeln bilden sogar Pupillen, blickten zu mir, aber antworteten nicht. War das ein Turban aus Tentakeln auf seinem Kopf? Nochmal auf stellte ich meine Frage, diesmal auf Tulamidya. Und nun bildeten die Ranken tulamidische Schriftzeichen. Ich las: Jaramillio.
Ein Dialog ergab sich, auf unserer Seite mit gesprochenem, auf der anderen Seite mit geschriebenem Wort. Rahjadis frage als nächstes: “Was tut Ihr hier?” Auf ihre Frage hin werkelten die Tentakeln lange, bis zu lesen war: Wir sind der Wall.
Ich fragte: “Seit wann seid Ihr hier?” Wiederum dauerte es einige Weile, bis ich entzifferte: Seit Bastrabuns Bann. Da starb ich, da ging ich in den Wall ein. - 'Bastrabuns Bann.' Ich wusste, dass dies damals die Endschlacht gegen den Dämonenmeister Borbarad gewesen war.
Ich sagte weiter: “Wir werden versuchen, Euch zu erlösen.”
Obwohl es keine Frage war, gerieten die Tentakeln wieder in Betriebsamkeit: Der Wall ist unzerstörbar. Gelobt sei der Herr des Walls und seine Sumu trotzende Konstruktion, die auf diesen tragenden Säulen beruht. Nicht auszudenken, was passiert, wenn man diese Säulen zerstört! Ein Zwinkern lag in den Augen des Gesichts, geformt aus Ranken. Bei Boron, dieses körperlose Bewusstsein, das die Pflanzen lenkte, hatte Humor!
Rahjadis verlangte daraufhin zu wissen: “Wie viele Säulen sind es? Zeig’ uns den Weg!” Und die Ranken gaben ihr zur Antwort zu lesen: Drei Säulen stützen die Macht meines Herren. Die Zwerge könnten wissen, wie man hier alles zerstört. Ein Glück, dass sie ein kurzes Stück weiter verbrannt sind.
Rahjadis nickte lächelnd. Dies war das letzte, was wir nun von dieser Wesenheit lasen. Ich spürte eine Präsenz über uns streichen, einen matten Hauch, der kurz zu einer drückenden, körperlosen Hand wird - dann verschwindet es. Wir sagten unseren Dank und wandten uns zum Gehen.
Eine unterwartete und unerwartet hilfreiche Begegnung