Yanna & Robertét - Der TotenGräber

  • Der Mann nahm Platz. Sein Gesicht verriet Anspannung und Neugier. Ohne sich nach irgend etwas zu erkundigen, erzählte Yanna ihm was er zu tun haben würde. Seine Zweifel wischte sie mit den Lebensmitteln und zwei Silbertalern fort. In Ermangelung von Alternativen nahm er das Geld an.
    Yanna verabschiedete sich mit einer Ortsbeschreibung und ging ohne ihr Bier angerührt zu haben. Hastig griff ihr Söldner nach dem Krug und stürzte den Inhalt in seine Kehle. Ein drittes Bier versüßte ihm den Gedanken an seinen neuen Beruf.

    Der späte Nachmittag ging bereits in den Abend über. Leomar wartete seit geraumer Zeit an dem genannten Treffpunkt. Seine Nervosität wuchs stetig. In seinem langen Leben hatte er fast ausschließlich als Schlepper gearbeitet. Dazwischen tat er irgend etwas auf irgend einem Schiff um gelegentlich in andere Städte zu kommen. So sah er wenigstens etwas von der Welt. Vermutlich sogar mehr als die meisten anderen Menschen. Schon früh hatte er sich damit angefreundet jeden Morgen erneut um Arbeit betteln zu müssen. Seine längste Anstellung hatte er auf einer einmastigen Kogge gehabt. Das Schiffe hatte zwei Wochen auf eine Sandbank fest gesessen.
    Vierzig Götterläufe hatte er stets Arbeit gehabt und nie hungern müssen. Selbst während der Winter nicht. Darauf war Leomar stolz. Noch mehr als auf die Häfen die er bisher gesehen hatte. Jetzt aber, mit zunehmenden Alter, dem schwächelnden Rücken und den schwindenden Muskeln, wurde es zusehends schwerer eine Anstellung zu bekommen. Nun war es also so weit mit ihm gekommen, dass er alles nahm was sich ihm bot. Schweren Herzens verabschiedete er sich von seinen Prinzipien.
    „Efferd mit euch.“ Wie aus dem Nichts tauchte Yanna aus einer Seitenstraße auf.
    Leomar tat viel um seinen Schrecken zu verbergen. „Swafnir mit euch.“
    Yanna hatte ihr sonst so freizügiges Äußeres unter einem dunklen Umhang verborgen. „Ihr seid tatsächlich erschienen.“
    Leomar war ein wenig enttäuscht, dass man ihm so wenig Vertrauen entgegen brachte. „Ich bin meinem Arbeitgeber treu.“
    „Gut. Zum Geschäftlichen. Ihr erhaltet wie versprochen, nachdem ihr den Auftrag beendet habt, noch einen weiteren Silber. Was ihr zu tun habt wisst ihr.“
    „Ich wäre euch dankbar wenn ihr es für mich noch einmal in Kurzform wiederholen würdet.“
    „Also gut.“ Geduldig wiederholte Yanna was Leomar zu tun hatte und wann.
    Die abendliche Kühle kroch ihm in seine mageren Glieder. Um so glücklicher war er als Yanna ihm den Umhang reichte. „Den werdet ihr brauchen.“ Einen kurzen Moment genoss er die warme Wolle, dann machte er sich pflichtbewusst ans Werk.

    Nicht weit abseits von einer Hauptstraße hockte Leomar auf dem sandigen Boden einer kleinen Straße. Den Umhang hatte er sich dicht um den Körper gewickelt und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Yanna hatte ihm aufgetragen so zu warten. Und er hatte nichts dagegen. Schließlich half der Umhang gut gegen die Kälte, die immer in ihm aufkam wenn er müde wurde. Vermutlich war es egal wo er sich befand. Sobald er müde wurde fing er an zu frieren. Höchst wahrscheinlich würde er sogar in den Tulamidenlanden oder direkt an einem Herdfeuer frieren.
    Leomar schmunzelte über sich selbst. Mit einem Gähnen wendete er seinen Blick wieder auf die Straße. Noch waren die Nachtwächter nicht durch die Straßen gegangen. Also war der neue Tag noch nicht angebrochen. Leomar wurde ungeduldig. Endlich fand er zwischen den letzten Nachtschwärmern was er suchte.
    Wieder von Nervosität befallen, beobachtete er das junge Mädchen. Da sie nicht alleine auf der Straße war, nahm er unbeholfen die Verfolgung auf, in der Hoffnung dass sich der richtige Moment noch ergeben würde. Den Blick nahm er immer nur kurz von der Straße. Seinen Körper drückte er in jede Nische und hinter jeden Vorsprung.
    Schnell merkte das Mädchen, dass es verfolgt wurde. Alle paar Schritte sah sie sich um und sah jedes Mal eine gebückte Gestalt, die mit dem Rücken an einer Hauswand gelehnt den Boden anstarrte. In ihrer Panik beging sie den Fehler auf den Yanna spekuliert hatte und den Leomar jetzt nutzte.
    Anstatt einen der Passanten anzusprechen und um Hilfe zu bitten, verließ sie die breite Straße. Der Weg den sie wählte war dunkel durch die dicht stehenden Häuser. Leomar beeilte sich ihr zu folgen und aufzuschließen.
    Ebenso wie das Herz des Mädchens, schlug seines bis zum Hals und das Blut rauschte in seinen Ohren. Ein letztes Mal quälte er sich über seine Moralvorstellungen hinweg. Der ängstliche Blick des Mädchens machte es ihm nicht leicht. Immer wieder sagte er sich, dass er ihr nur einen Schrecken einjagen sollte. Er würde ihr nicht weh tun, sie nicht einmal berühren.
    Noch immer war ihm nicht klar warum er das eigentlich tat. Abgesehen vom Geld. Es ging ihn aber auch nichts an.
    Erschrocken davon wie weit er mit seinen Gedanken abgetrieben war, schüttelte er energisch den Kopf.
    Die Straße war weit hinter ihm und in der Gasse wurde es so dunkel, dass Leomar das Mädchen kaum noch erkennen konnte. Jetzt musste er handeln. Er beschleunigte seine Schritte und atmete übertrieben schwer.
    Ohne sich umzusehen beschleunigte auch das Mädchen seine Schritte.
    Leomar begann zu laufen.
    Unter einem panischen Aufschrei tat das Mädchen es ihm gleich. Leomar folgte ihr noch einige Schritte und ließ sie dann entkommen. Er selbst sah zu, dass er schleunigst verschwand. Nur nicht erwischt werden.
    Einige Straßen entfernt, gefühlt frei von jeder Gefahr erwischt zu werden, stellte Leomar erstaunt fest wie leicht und frei er sich fühlte. Im Nachhinein empfand er sein Handeln als gar nicht so bösartig. Die Streiche die sie einander in der Kindheit gespielt hatten, waren garstiger gewesen. Wohl deshalb empfand er die selbe diebische Freude wie zu Kinderzeiten.
    Leomar sagte Yanna zu in der folgenden Nacht den selben Auftrag noch einmal zu verrichten.

    Die Arbeit die Robertét auf der Baustelle verrichten konnte, würde ihn noch über diesen Tag retten. Dann aber musste er sich etwas Neues suchen. Er haderte schwer mit sich selbst wohin es ihn als nächstes ziehen sollte.
    Nur zu gerne hätte er als Almaryon weiter gemacht. Doch ihm fehlten noch einige Details ohne die seine Rolle einfach nicht vollständig war.
    Er fühlte sich nicht wohl in unvollständigen Rolle. Und wenn er sich nicht wohl fühlte konnte er nicht richtig in die Rolle eintauchen. Aber ohne richtig in die Rolle eingetaucht zu sein, konnte er sie nicht glaubhaft verkörpern.
    Nein, Almaryon war keine gute Idee, befand Robertét. Andererseits: Er brauchte sehr bald mehr Informationen aus der Bevölkerung. Was er bisher gehört hatte war so wage, dass es sich höchst wahrscheinlich um ein paar Hirngespinste und Fantasien handelte. Von Yanna erwartete er nicht viel und von Karon wollte er nicht übertrumpft werden. Über den wollte er ja auch noch Nachforschungen anstellen.
    Robertét seufzte. Anstellungen als Tagelöhner waren einfach zu unflexibel und zeitraubend. So kam er einfach nicht vorwärts. In den Abendstunden verabschiedete er sich von Praian.
    Das kleine Säckchen Silber wog nicht schwer in seiner Hand. Zusammen mit dem was noch in seinem Geldbeutel lag, konnte er seine Unterkunft noch knapp eine Woche bezahlen. Vorausgesetzt er musste kein Geld für Lebensmittel ausgeben.
    Für die Weizenernte war es Mitte Peraine noch zu früh. Auch Heu wurde derzeit nicht geschnitten. Anstellungen als Hirte würden seine Situation kaum verbessern. Beruf um Beruf strich Robertét von seiner Liste. Zu einsam, zu anstrengend, zu wenig Sold.
    Er entschied sich, während er behutsam Ritter, Pferde, Lanzen und Könige aus einem Stück Holz befreite, kurze Zeit auf Yannas Art zu leben. Nur bis er alles zusammen hatte was er brauchte um wieder Almaryon der Jüngere zu sein.

    Leomar hatte sich, wie zu erwarten, auch an sein zweites Versprechen gehalten und sich erneut mit Yanna getroffen. Dieses Mal sollte er in der Nähe einer Schankstube warten. Wieder lieh sie ihm den dunklen Umhang.
    Das er heute betrunkene erschrecken sollte, sagte ihm weit mehr zu. Es würde sicherlich nicht so leicht sein, wie einem ängstlichen Mädchen einen Schrecken ein zu jagen aber es kam ihm, weshalb auch immer, lustiger vor.
    Ständig verließen Gäste zu zweit, zu dritt das Schankhaus vor dem Yanna ihm zu warten geheißen hatte. Niemand schien alleine nach Hause gehen zu wollen. Erst spät in der Nacht trat jemand alleine durch die Tür. Leomars Glieder waren bereits steif gefroren.
    Endlich ein mögliches Opfer und dann so etwas. Der Mann war jung, hatte doppelt so breite Schultern wie Leomar, kein erkennbares Gramm Fett am Körper und Hände mit denen er Leomar ohne Mühe zerquetschen konnte.
    Ängstlich sah Leomar zu Yanna, die auf der anderen Seite wartete. Sie nickte.
    Da er seine Auftraggeberin nicht enttäuschen wollte, blieb ihm keine andere Wahl. Er folgte dem Wandschrank eine Weile. Viel Mühe musste er sich dabei nicht geben. Im ruhigen Gewerkehoop überholte Leomar ihn, indem er eine Seitenstraße nutzte.
    Dort wo sie wieder auf die Straße mit seinem Opfer traf, wartete er, verborgen hinter einem Baum.
    Leomar wartete bis zum letzten Moment. Dann sprang er dem Wandschrank mit ausgebreiteten Armen vor die Füße.
    Keine Reaktion.
    Leomar starrte ihm fest in die Augen.
    Noch immer keine Reaktion.
    Leomars Herz raste. Er begann zu knurren. Er holte das Geräusch aus den tiefsten Tiefen seines Bauches.
    Die Augen des Wandschranks weiteten sich.
    Leomar fasste Mut. Er beendete sein knurren mit einem kehligen Laut der erstaunliche Ähnlichkeit mit den letzten Sekunden eines Schlachtviehs hatte.
    Der Wandschrank schluckte.

  • Leomar war sich sicher dass jetzt nur noch der eine Tropfen fehlte. Er konnte schon die aufkommende Freude spüren die seinen Körper gleich überschwemmen würde. Er überlegte Fieberhaft. Da ihm nichts besseres einfiel, streckte er die Arme aus.
    Der Wandschrank torkelnd einen Schritt zurück.
    Leomar legte den Kopf zur Seite und riss den Mund weit auf, bleckte die Zähne und kam den sehnigen Hals langsam näher.
    Der Blick des Wandschranks wurde panisch.
    Leomar jubelte innerlich. Nur noch einen Spann war er vom Hals entfernt.
    Ruckatrig löste sich die Starre des Wandschranks und er stolperte einige Schritte rückwärts. Er hatte arge Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu halten. Anstatt sich umzudrehen, beschrieb er einen kleinen Kreis. Mit rudernden Armbewegungen versuchte er sein Gleichgewicht zu unterstützen.
    Der Wandschrank benötigte eine geschlagene Minute um sich zwanzig Schritt von Leomar zu entfernen.
    Dieser hatte ich inzwischen unter den Baum gesetzt und beobachtete erleichtert und mit breitem Grinsen sein Werk. Diese kleinen Späße schienen ihm gut zu tun. Er fühlte sich unbeschreiblich jung und lebendig.
    Yanna setzte sich zu ihm und gemeinsam lachten sie noch eine Weile über den torkelnden Wandschrank. Dann verließ sie ihn. Den Umhang durfte er behalten.
    Für Leomar war der Umhang mehr als nur wärmend. Seit er als Tagelöhner arbeitete, hatte er nie mehr als die Stoffreste an seinem Körper besessen. Das Geld hatte nie für mehr als Lebensmittel gereicht, was für ihn völlig in Ordnung war. Der Umhang war nun sein erster richtiger Besitzt und von den zwei Silbertalern konnte er sich mehr kaufen, als ihm Dinge einfielen. Er war mächtig stolz auf sich.

    Kaum dass die ersten Sonnenstrahlen über Rivas Stadtmauern krochen war Robertét unterwegs. Seine Leinenhose und sein grobes Hemd hatte er gegen die bunte Flickenhose und seinen gleichartigen Mantel getauscht, die er in der Nacht fertig gestellt hatte. Sorgsam verglich er sie mit seiner alten Gewandung und zupfte überstehende Nahtenden ab.
    Weil ihm seine Schuhe nicht passend vor kamen lief er barfüßig über das kalte Pflaster, bis er passende bekam. Das Gesicht hatte er bewusst nicht rasiert.
    Die Kleiderflicken hatte Robertét in Grüntönen und gelegentlichem blaugrau gehalten. Die aufgesetzten Taschen waren übertrieben groß. Die Spitze der Kapuze würde bald bis zum Boden reichen. Es fehlte nicht mehr viel Stoff.
    Robertéts Miene war freundlich aber aufgesetzt. Er grüßte überschwänglich jede Mutter und tätschelte den Kindern auf seinem Weg den Kopf. Gelegentlich ließ er kleine Sprüche uns Späße fallen. Auf seinem Weg hinterließ er gute Laune. Er selbst war allerdings nicht der besten.
    Während des abendlichen schnitzens hatte er sich noch einmal ausgiebige Gedanken über Almaryon gemacht. Er musste sich selbst eingestehen, dass er als Robertét nicht weiter kam. Ihm war nichts eingefallen wie er mit ihm dicht an die Bevölkerung kommen sollte. Deshalb probierte er nun widerwillig Almaryon.

    Der Hinterhof mit Karons Wagen hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. Nun standen ein Tisch und ein Stuhl auf dem Grün. Zwei Holzgestelle mit Tuchballen standen daneben. Vor dem Eingang des Wagens lag ein hellblauer Teppich.
    Robertét beobachtete, verborgen hinter eine Hecke, wie Karon an seinem Tisch über Papieren brütete. Ob es nun Dokumente aus dem Tempel oder Bestellungen für Stoffe waren, ließ sich auch nach langer Beobachtung nicht feststellen. Deshalb entschloss sich Robertét sein Versteck zu verlassen.
    „Hallo Karon.“
    „Robertét? Welche Verzweiflung treibt euch zu mir?“
    „Ich habe erledigt worum ihr mich gebeten habt.. Nun wollte ich sehen wie weit ihr seid.“
    „Ich komme gut voran. Auch wenn mein Teil schwieriger ist.“
    „Ja, sicher. Lesen kostet viel mehr Kraft als den ganzen Tag durch die Stadt zu streifen und nebenbei noch Geld zu verdienen.“, sagte Robertét spöttisch.
    „Mein Geld vermehrt sich auch nicht von alleine.“ Karon überlegte. „Ist es das, weshalb ihr hier seid? Brauchst ihr Geld?“
    „Oh, danke. Ich kann gut für mich selbst sorgen.“
    „Es wäre auch traurig wenn ihr für diesen Flickenteppich das ganze Gold von al'Tosra ausgegeben hättet.“
    „Ich habe nicht vor das Geld anzurühren.“
    „Wie schön. Also, warum seit ihr hier?“
    „Wie ich euch eben sagte. Ich habe alles erledigt und warte nur auf euch.“
    „Erzählt mal was ihr in Erfahrung gebracht habt.“, sagte Karon in Erwartung von Versagen.
    „In der Stadt spricht niemand über Untote. Es gibt nicht einmal Gerüchte. Auch, aber das hattet ihr ja sicherlich erwartet, über den Tempel spricht niemand.“
    „Ja, das hatte ich erwartet.“ Karon rieb sich die Schläfen. „Und ihr habt euch überall umgehört?“
    „Bei jedem der etwas wissen könnte.“ Robertét grinste, sicher keine Schwachstelle zu haben.
    „Habt ihr euch auch in den Stadtteilen umgehört in denen ihr den Untoten begegnet wart?“
    „Selbstverständlich.“
    „Habt ihr auch bei denen nachgehakt die in den dunklen Orten dieser Stadt leben?“
    „Was denkt ihr denn.“ Robertét wurde der Fragerei überdrüssig.
    „Seit ihr euch ganz sicher?“, hakte Karon ein weiteres Mal nach.
    „Zum Namelosen mit euch. Wenn ihr mir nicht vertraut, dann fragt doch Yanna. In ein oder zwei Wochen dürfte sie über ihr Selbstmitleid hinweg sein.“
    „Sie liegt im Wagen. Ihr könnt sie ja fragen wenn sie ausgeschlafen hat.“
    Robertét hatte stark mit sich zu kämpfen.
    „Ich wecke sie eben. Dann müsst ihr nicht so lange in peinlicher Stille herumstehen, bis ich euch eure neue Aufgabe gebe.“, fuhr Karon fort und verschwand im Wagen.
    Robertét konnte sich vor Wut kaum halten. Am liebsten hätte er Karons ganzes protziges Mobiliar auseinander genommen, die Stoffe in Fetzen über ganz Riva verteilt und den Wagen im Kvill versenkt. Wegen solchen Gebäuden bereute er es keinen Augenblick, dass er die Wahrheit für Karton etwas zurecht gebogen hatte. Er war längst nicht überall gewesen und hatte nur die Möglichkeiten abgeklopft, die er als Robertét hatte. Aber die anderen Tagelöhner mit denen er gesprochen hatte lebten fast ausnahmslos in der Underen Wyk. Näher an den dunkelsten Orten Rivas konnte man nicht sein.

    Zwanzig Minuten später, Robertéts Wut hatte sich nur wenig abgemildert, erschienen Karon und Yanna in der Tür. Sie hatte sich mit breitem Grinsen bei ihm untergehakt.
    Karon grinste wie ein Sieger. „Ich benötige noch zwei Bücher, ohne dir wir nicht weiter kommen.“ Karon ließ Robertét keine Chance seine Wut zu zeigen und genoss es ihn noch weiter anzustacheln. Er fand Robertéts Ambitionen die Führungsrolle zu übernehmen zum schreien komisch und er würde sie mir Freude unterbinden.
    „Ach, müssen wir?“ Robertét beobachtete jede von Karons Bewegungen. Irgendwie musste er ihn erwischen, ihn enttarnen. Er würde ihm schon klar machen wer von ihnen der Beste war.
    „Okay.“ Yanna reckte sich und ordnete ihr Haar. „Wenn du die Bücher brauchst, dann besorgen wir sie für dich.“
    Robertét murmelte eine unverständliche Antwort.
    „Also gut.“ Karon nahm Feder und Papier und notierte etwas. Er übergab Yanna das gefaltete Stück. „Darauf steht alles wichtige.“ Und an Robertét gewandt fuhr er fort. „Umso eher ihr den Auftrag erledigt, umso eher könnt ihr wieder euren eigenen Weg gehen.“
    „Dann sollten wir Karon so schnell wie möglich helfen, nicht Yanna?“, fragte Robertét sarkastisch und mit Nachdruck.
    „Natürlich.“ Yanna bemerkte die Anspielung entweder nicht ober überging sie bewusst.
    „Also dann.“ Karon schaut erwartungsvoll in die Runde. Robertét schaute ebenso erwartungsvoll zurück. „Ihr… könnt dann.“
    „Ja, wir könnten.“ Robertét ließ den Blick nicht fallen. Mit unverhüllter Abneigung starrten die beiden sich an, unterdrückten jedes blinzeln, jede Muskelregung. Schließlich wurde es Yanna zu blöd. Sie hakte sich bei Robertét unter und zog ihn aus dem Hof „Lass uns anfangen.“ Dieses Mal versuchte sie nicht Robertét von Karons Vorzügen zu überzeugen. Stattdessen überreichte sie Robertét den Zettel. „Also, was machen wir als erstes?“
    „Was wohl.“, gab Robertét entnervt zur Antwort. „Uns das Objekt ansehen.“ Das Objekt war ein einfaches Haus im Gewerkehoop, umgeben von einem gut gepflegten Garten und einem niedrigen Eisenzaun. Yanna und Robertét gingen gemächlich am Grundstück entlang, bewunderten dabei die Rosensträucher und Pappelsprösslinge, die Hundehütte, die verzierten Fensterläden im zweiten Stockwerk, dass akkurate Reetdach, den Schatten von Gardinen hinter den drei Ölpapierfenstern im ersten, und den fünf im zweiten Stockwerk.
    Sie ließen sich Zeit bevor sie denselben Weg zurück nahmen. Freundlich grüßte sie das Hausmärchen und sahen kurz zu wie es Möhren und Feldsalat erntete. Sie folgten der Straße bis an die Stadtmauer.

    Yanna ließ ihre Füße vom Wehrgang baumeln, während Robertét den Ausblick auf die Flussmündung in sich auf sog. Schweigend brüteten sie über ihren Möglichkeiten bis Yanna die Stille brach.
    „Ob sie den Hund wohl draußen lassen?“
    Robertét atmete nachdenklich tief durch. „Hoffen wir es.“
    „Und wenn nicht?“
    Abwechselnd präsentierten sie ihre Ideen und arbeiteten nach und nach einem Plan heraus. Zwischendurch sah Yanna immer wieder auf Karons kurze Notiz. Inständig hoffte sie das ganz plötzlich noch eine weitere Zeilen unter der Wegbeschreibung auftauchte. „Wir machen das praktisch blind, oder?“ In ihrer Stimme schwang Sorge.
    „Wir machen genau das, was ich dir immer versucht habe auszutreiben“
    „Können wir nicht einfach noch ein paar Tage warten?“
    „Was soll uns das bringen. Ohne das Haus zu betreten werden wir nicht erfahren wie es darin aussieht.“
    Yanna dachte einen Moment nach. Ihrer Lippen formten lautlose Worte. Dann verwarf sie den Gedanken wieder. „Mir fällt einfach nichts ein. Und jetzt?“
    „Arbeiten wir blind und bereiten uns auf alle Eventualitäten vor.“ Robertét widmete sich erneut dem Ausblick. Yanna beobachtete vom Rand des Wehrgangs aus, wie sich das Leben durch die Stadt bewegte. Sie konnte von hier aus einem Teil der Hauptstraße und des Marktes sehen. Sie sah wie Händler und Kunden um Preise feilschten, beobachtete wie zwei Gardisten einen Taschendieb abführten. Am Rande des Platzes stand eine Gruppe Mägde, tuschelten und lachte. Yanna genoss den Anblick und die Ablenkung.
    Robertét stieß sich mit einem Seufzer von der Palisade ab und ging an Yanna vorbei die Treppe hinab. „Bis heute Abend.“ Sie nickten nur. Seiner Gewohnheit folgend traf er alle Vorbereitungen. Yanna sollte nicht die Möglichkeit bekommen Fehler zu machen. Zu gerne hätte er ihr einfach vertraut, sich entspannt und dem Einbruch zuversichtlich entgegen gesehen. Doch da waren so viele schlechte Erinnerungen. Vor allem aus der letzten Zeit. Eigentlich war ihm Yanna ja eine wundervolle Begleitung, aber als Streunerin zeigte sie sich immer wieder völlig untalentiert, auch wenn es Lichtblicke gab. Wieso rechtfertigte er sich eigentlich? Robertét versuchte zu Ruhe zu kommen und seine Gedanken etwas anderes zu lenken.

  • „Hast du alles bekommen?“, flüsterte Yanna in Schutz der Dunkelheit.
    „Das wird sich noch zeigen.“ Robertét versucht zu lächeln.
    „Dann los.“
    Alle Lichter im Haus waren gelöscht, die Hundehütte war leer. Ebenso die Straßen. Stets die Umgebung im Blick, näherten sie sich dem Haus. Robertét wollte zuerst den einfachen Weg versuchen. Langsam drückte er die Türklinke herunter. Ein Riegel auf der anderen Seite der Tür verhinderte das Öffnen.
    „Schade.“, juxte er.
    „Und jetzt?“
    „Das Fenster natürlich. Hast du ein Messer“
    Wortlos reichte Yanna ihm einen der Feinen Dolche, die sie Praian abgenommen hatte.
    Sie tasteten sich weiter zur Seite des Hauses. Den Gemüsegarten im Rücken untersuchte Robertét vorsichtig das Papier. Dann schnitt er es ebenso vorsichtig aus dem Holzrahmen. Angestrengt und ohne jede Bewegung starrte er die Dunkelheit dahinter, bis seine Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten. Yanna beobachtete unterdessen die Straße, die unverändert leer blieb.
    Nach und nach erkannte Robertét Details einer Wohnstube. Zwei mit Stoff bezogen Stühle standen an einem kleinen Tisch. Der Boden war Großteils mit einem schlecht gewebten Teppich bedeckt. An den Wänden standen vier Regalen, gefüllt mit wenigen Büchern und viel Kitsch. Robertét schätzte die Größe des Raumes. Allem Anschein nach führte die einzige Tür im Raum direkt vor die Eingangstür.
    Er tippte Yanna kurz auf die Schulter und als sie sich zu ihm umdrehte, war er schon halb durch das Fenster geklettert. Von drinnen half der Yanna ihm zu folgen. Gemeinsam überflogen sie die wenigen Buchtitel.
    Yanna entfuhr ein unterdrückte Jubel. Bei allen Büchern handelte es sich dem Einband nach um kitschig Romane, lediglich ein einzelnes Buch passte nicht dazu. Der Einband war schmucklos, eher notdürftig angebracht und trug keinen Titel.
    „Was ist?“
    „Ich hab eines.“ Vorsichtige zog sie das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Zahlen, nichts als Zahlen. Keine Lücke, kein Absatz. „Kannst du etwas damit anfangen, Robertét?“
    „Beim besten Willen nicht.“
    Yanna ließ das kleine Buch in einer ihrer Taschen verschwinden. Das zweite Buch fanden sie jedoch nicht.
    „Und jetzt?“
    Robertét ging zur Tür „Jetzt sehen wir weiter.“ Die Tür verfügten nur über einen einfachen Griff. Robertét zog daran. Geräuschlos ging die Tür auf. Das schwache Licht der Glut im Kamin gegenüber blendete in ihren Augen. Die Küche lag direkt hinter der Haustür und war eingerichtet wie alle Küchen. Vor dem verlöschenden Kaminfeuer lag der schlafende Hund.
    Robertét deutete Yanna mit einem kurzen Handzeichen an, sich völlig still zu verhalten. Die wachsamen Ohren des Hundes nicht aus den Augen lassend, tasteten sie sich zur Treppe vor, die sich neben der Tür in das obere Stockwerk erhob. Die Stufen waren alt und Robertét war sich sicher, dass mehr als eine knarren würde. Deshalb tastete er sich auf allen Vieren empor.
    Mit den Händen untersuchte er jede Stufe, belastete sie vorsichtig und mied jede die zu große Gefahr bot unter seinem Gewicht markerschütternd zu knacken. Yanna achtete darauf nur die Stellen zu berühren und nur dorthin zu treten, die Robertét für sicher befunden hatte.
    Der Hund regte sich nicht.
    Am oberen Ende der Treppe lag ein kleiner Flur mit drei Türen. Der Geruch verriet den Abort hinter einer der Dreien.
    „Dann bleibt noch das Mädchenzimmer und das Schlafzimmer der Besitzer.“, flüsterte Yanna. „Welche zuerst?“
    „Die Hintere. Die Hausmädchen haben ihre Zimmer immer dicht an der Treppe.“
    Auf Zehenspitzen gingen sie zu der Tür am Ende des Flurs. Auch diese Tür verfügte nicht über ein Schloss und ließ sich fast lautlos öffnen.
    „Ich mag Hausbesitzer die ihr Heim gut in Schuss halten.“ Yanna und Robertét konnten einen großen Kleiderschrank, vier Truhen in verschiedenen Größen und einen gut gefüllten Schreibtisch sehen. Es roch nach Stroh. Zwei Fenster ließen etwas Licht in das Schlafzimmer; milchig trübe durch das Ölpapier. Unter einem der Fenster stand ein Bett. Die Gestalt unter den Decken schlief tief und fest. Unter ihrem gleichmäßigen Atem hob und senkte sich auf der Brust ein Buch.
    „Gefunden.“
    „Hol du dir das Buch. Ich will noch nach etwas anderem suchen.“
    „Warum ich?“
    „Weil du weitaus feinfühliger bist als ich.“
    „Typisch Mann.“, lächelte Yanna. Innerlich fühlte sie sich nicht ganz so zuversichtlich. Während Robertét sich den Schreibtisch ansah, wartete Yanna auf dem richtigen Augenblick das Buch an sich zu nehmen. Es fiel ihr nicht leicht sich zu konzentrieren. Immer wieder drehte sie sich zu Robertét um und versuchte ihre, vor Aufregung zitternden Finger, ruhig zu halten. Bei jeder Bewegung des Mannes zuckte sie unwillkürlich zusammen.
    Robertét hatte die Papiere auf dem Schreibtisch durchsucht und widmete sich nun den Schubladen.
    Yanna griff langsam nach dem Buch. Ihre Hände folgten dabei dem Atemrhythmus des schlafenden. Wieder bewegte sich der Mann und Yanna zuckte ein weiteres Mal zurück. Sie sah wie er sich zur Bettkante drehte. Das Buch rutschte von seiner Brust und blieb an der Bettkante liegen. Yannas Herz schlug bis zum Hals. Noch bevor sie sich beruhigen konnte, folgte eine weitere Bewegung des Schlafenden. Mit dieser schob er das Buch von der Bettkante. Yanna stand unbewegt da und sah zu wie das Buch den Boden näher kam. Im letzten Moment legten sich vier Finger zwischen Buch und Boden.
    Robertét atmete langsam aus. Mit ernstem Blick sah er Yanna an.
    „Danke.“, flüsterte sie fast tonlos.
    „Ist es das Richtige?“ Er drückte ihre das Buch in die Hand.
    Der Einband war aus dickem Leder, an den Ecken mit Beschlägen verziert. Auf dem Deckel stand ein Titel in silbernen Lettern, geschrieben in einer Sprache die sie noch nie gesehen hatte.
    „Es könnte das Richtige sein.“
    „Dann lass uns gehen. Sofort.“
    Yanna hatte nichts dagegen schnell zu verschwinden. Ebenso vorsichtig wie sie die Treppe herauf geschlichen waren, arbeiteten sie sich jetzt herunter. Dabei hatten sie die Augen immer wieder auf den Hund gerichtet. Nur einmal regten sich seine Ohren.
    Wenig später kletterten sie durch das Fenster. Erst als sie zwei Querstraßen entfernt waren, sprachen sie wieder miteinander.
    „Und nun?“
    Robertét wog ein kleines Geldsäckchen in der Hand. „Nun bringst du die beiden Bücher Karon. Frag ihn gleich ob er noch mehr Hilfe benötigt.“
    „Seid doch nicht schon wieder so.“
    „Wie soll ich nicht sein?“, fragte Robertét provozierend.
    „Du weißt schon was ich meine.“
    „Ich ahne es, ja. Aber was erwartet du von mir? Ich weiß nichts über Karon und du weißt auch nicht viel mehr. So wie er sich verhält sehe ich keinen Grund ihm zu vertrauen.“
    „Ich sehe viele Gründe ihm zu vertrauen.“
    „Welche?“ Robertét verschränkte die Arme.
    „Zum einen…“ Yanna kamen ins Stocken. „Du kennst ihn eben nicht.“ Yanna verschwand ohne ein weiteres Wort, mit den beiden Büchern.
    Robertét machte sich, zufrieden mit sich selbst, auf den Weg in sein Zimmer. Der gestrige Tag und heute, in Almaryons Kleidern hatte ihn wieder ein Gefühl für die Rolle gegeben. Morgen würde er die Rolle noch besser auskleiden.
    Yanna hingegen grübelte über das was Robertét gesagt hatte. Sie vertraute Karon. Doch es gab nichts woran sie es festmachen konnte. Es lag an seiner Art, seinem Wesen. Aber konnte sie ihn wirklich vertrauen? Was wusste sie eigentlich über ihn? Abgesehen von seinen Namen. Er hatte ihr viele Geschichten und Abenteuer aus seinem Leben erzählt, aber nie woher er kam, wie alt er war oder irgendetwas anderes persönliches. Vielleicht sollte sie sich ein wenig in seinem Leben umsehen.

    Mit dem Sonnenaufgang füllte Robertét seine Taschen mit Holzfiguren, etwas trockenem Brot und einem kleinen Schlauch Wein. Er setzte sich an den Stadtbrunnen zu den Mägden, Hausmädchen und Kindern. Vor sich auf den Boden bereitete er die Figürchen aus und stellte sie zu einer kleinen Szene zusammen. Dann rief er die Kinder zu sich.
    Unter den Blicken der Waschenden, Plaudernden und Lachenden, erzählte er die Geschichte vom Ritter Gahan und wie er die schöne Nadia rettete.
    Von Minute zu Minute wurden die Augen der Kinder größer. Als Almaryon es dann noch den Kindern überließ die Figuren zu bewegen und so die Geschichte noch lebendiger gestaltete, begannen ihre Augen zu leuchten.
    Zum Mittag teilte er sein Brot und seinen Weinschlauch mit einer jungen Mutter. Sie unterhielten sich über belangloses, zum Zeitvertreib. Sie lobte Almaryons Erzählkünste und seinen Umgang mit den Kindern, er lobte ihren Sohn.
    Nach der Mittagsstunden kamen noch mehr Kinder und Almaryon erzählte die Geschichte von neuem. Mit einem halben Ohr lauschte er dabei den Gesprächen der Hausmädchen. So bekam er mit, dass einige von ihnen Angst vor einem Ungeheuer hatten, das ist seit kurzem die Nächte unsicher machte.
    Nachdem er seine Geschichte erzählt hatte, wandte er sich den Frauen zu. Vorsichtig fragte er nach dem Ungeheuer. Sie berichteten ihn von zwei Frauen die zu Nacht des von einer vermummten Gestalten angegriffen worden waren.
    Endlich hatte Almaryon eine Spur zu den Untoten. Doch mehr als das ist die Angriffe gegeben hatte konnte er nicht in Erfahrung bringen.

    Yanna hatte einen großen Teil der verbleibenden Nacht damit zugebracht, vor sich selbst ihr Vertrauen in Karon zu rechtfertigen. Eingeschlafen war sie erst als klar wurde was Robertét mit seiner Frage eigentlich bezweckt hatte. Es ärgerte sie, dass er tatsächlich sein Ziel erreicht und sie ins Grübeln gebracht hatte. Nun streifte sie über den Markt, beobachtete die Menschen beim Feilschen.
    An einer Hauswand gelehnt, hatte sie sich eine ältere Dame ausgesucht, die ein leichtes Opfer für ein paar schnell verdiente Münzen abgab, als sich jemand neben sie stellte.
    „Hallo, schöne Frau.“

  • „Rahja grüßt euch.“
    „Arbeitest du gerade?“
    „Ja, junger Mann.“
    „Dann werde ich wohl etwas warten müssen.“
    „Ich wäre dir zu Dank verpflichtet.“ Yanna stieß sich mit der Schulter von der Wand ab und hielt auf die ältere Dame zu.
    Sie folgte ihr einige Schritte, während sie einen Apfel aus ihrer Tasche hervorholt. „Entschuldigung. Verzeiht.“ Sie tippte der Dame sanft auf die Schulter. „Der ist aus eurer Tasche gefallen.“
    „Ich danke euch.“
    „Nichts für ungut.“ Yanna kehrte an ihrer Hauswand zurück. „Wo waren wir stehengeblieben?" Sie zählte drei Kupfermünzen und sieben Eisen.
    „Ich wollte nur nach dir sehen.“
    „Bedarf ich tatsächlich der Aufsicht oder versuchst du dich an einem Kompliment?“
    Ihr Wandnachbar sah lächelnd zu Boden. „Möglicherweise suche ich auch nur Ablenkung von meiner Arbeit.“
    „Die kann ich dir bieten.“ Noch einmal ging Yanna auf den Platz. „Woher kommst du eigentlich?"
    „Mein letztes Lager hatte ich in Olport aufgeschlagen.“
    „Nein, wo bist du aufgewachsen?“
    „Ach so. Weit im Süden. In Punin.“
    „Dann bist du in den letzten Jahren über den halben Kontinent gereist.“ In Yanna Stimme schwang viel Respekt mit. „Wie viele Jahre hast du für diese Strecke gebraucht?“
    „Punin habe ich, glaube ich, mit 15 verlassen. Also bin ich jetzt 16 oder 17 Jahre unterwegs. Wirklich auf Reisen habe ich aber die wenigste Zeit verbracht. In den ersten Jahren musste ich mir erst einmal einen Namen machen, Kunden gewinnen und alles über Stoffe lernen.“
    „Was meinst du in wie vielen Städten du schon warst?“
    „Da fragst du mich was.“
    „Ungefähr.“
    Karon überlegte. „Bestimmt in mehr als drei Dutzend, kleinere Orte mitgezählt. Einige habe ich nur einmal gesehen. Andere kenne ich besser als meine Heimatstadt.“
    „Wie wundervoll muss das sein so viel von der Welt zu sehen, so viel zu erleben, alle diese Menschen kennenzulernen.“
    „Wenn ich mir alles Schöne vor Augen rufe, habe ich Angst dass mir der Kopf platzt. Und die Abenteuer von denen ich dir erzählt habe sind nur die aller aufregendsten. In Wirklichkeit gibt es noch weit mehr große und kleine Geschichten.“ Karon driftete beim Reden in seine Erinnerungen ab. Als er zurückkehrte, kam Yanna ein drittes Mal vom Markt.
    „Ich hoffe wir beide haben noch viel Zeit für alle diese Geschichten.“
    „Bestimmt. Jetzt sollte ich aber wieder.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er den Platz. Yanna hingegen blieb noch eine Weile und genoss was sie über Karon herausgefunden hatte.

    Kurz bevor der Abend anbrach und die Händler ihre Stände und Läden schlossen, machte sie sich auf um einen Teil des erworbenen Geldes auszugeben. Sie erwarb beim Schlachter etwas Blut, beim Köhler ein Stück Holzkohle und beim Gerber etwas von dem was beim Aufbereiten der Häute abfiel. Außerdem versetzte sie beide Dolche. Vermutlich würde sie in den nächsten Tagen noch mehr Geld brauchen. Mit ihren Besorgungen suchte sie Leomar auf. Sie hatten sich, nachdem sie ihn gestern Nacht vertrösten musste, bei den Stallungen der Stadtgardisten verabredet.
    Nach Einbruch der Dunkelheit verirrte sich niemand mehr hier her. Die Gardisten ritten nur tagsüber durch die Straßen. Der letzte Wachwechsel fand immer eine Stunde vor Dämmerung statt. Sie würden hier also bis zum Morgen ungestört sein.
    Leomar wärmte seine Hände unter der Mähne eines Pferdes.
    „Hallo Leomar. Seid ihr bereit?“ Yanna wartete keine Antwort ab. „Heute wird etwas anders sein.“
    „Weshalb?“
    Sie bereitete ihre Besorgungen auf dem Stroh aus. „Wir werden euch ein wenig verkleiden.“
    Neugierig beobachtete Leomar wie Yanna ihn mit Kohle und Blut bemalte. Immer wieder sah sie sich ihr Werk kritisch an und nahmen Korrekturen vor. Zum Schluss rieb sie ihn mit dem Abfallsud vom Gerber ein.
    Der beißende Gestank raubte beiden den Atem. Leomar hatte ganz besonders mit den Dämpfen zu ringen. Um Luft holen zu können musste er sich schneller bewegen als der Gestank aufsteigen konnte. Doch er beklagte sich nicht bei Yanna. Ein Silber war zu viel Geld. Als sie allerdings begann Witze zu machen, stimmte er ohne zu zögern ein.
    Fertig verwandelte in ein stinkendes Monster schickte Yanna Leomar in die Nacht. Er sollte dieses Mal in der Nähe des Neuhavens nach einem Opfer suchen. Aufgrund seines Geruchs blieb er nie stehen, sondern wanderte ziellos zwischen den Häusern entlang.

    Almaryon hatte entschieden, dass es nützlich wäre nach dem Untoten zu suchen. Was er von den Hausmädchen und Müttern erfahren hatte, stimmte ihn hoffnungsvoll den wandelnden Leichnam zu finden. Jetzt wo er auf ihn vorbereitet war, konnte er ihn möglicherweise sogar verfolgen und sein Versteck finden. Hauptsache er wurde nicht bemerkt. Leider hatte er keine Vorstellung wo er dem Untoten begegnen konnte. Daher streifte er durch die Straßen, änderte abrupt die Richtung, folgte Schatten und Geräuschen.
    Ohne es zu wissen hatte es ihn dicht an den Neuhaven geführt. In einem kleinen Park aus drei Bäumen, einem Beet und einer Bank, eingezäunt von einer ungepflegten Hecke, gerade als er sich fragte, warum er im Süden Rivas, zwischen all den Händlern und Gewerbetriebenden, statt in der Underen Wyk, auf der anderen Seite des Kvill, suchte, nahm er den Geruch das erste Mal war.
    Er war so schwach und unbestimmt, wie vor ein paar Tagen im Phextempel. Seine Anwesenheit riefen in Almaryon eben diese Erinnerung wach. Schlagartig schwand sein Mut und sein Wille den Untoten zu finden.
    Mit schnellen Schritten verließ er den Park. Der Geruch wurde stärker und die Erinnerung deutlicher. Hektisch suchte Almaryon nach einem Weg möglichst weit weg. Doch auf dem Weg auf dem er zu entkommen versuchte, wurde der Geruch noch stärker und war nicht mehr zu ignorieren. Der Sand unter Almaryons Füßen klang wie die Scherben auf dem Tempelboden.

    Leomar wollte seine Aufgabe schnellstmöglich erfüllen. Der Gestank nach totem Tier machte ihn wahnsinnig. Es bestand keine Chance dass er sich jeh auch nur entfernt daran gewöhnen würde. Deshalb suchte er fieberhaft nach jemanden den er erschrecken konnte und musste feststellen, dass Riva viel zu klein für ein Nachtleben im Neuhaven war. Nirgends brannte ein Licht, keine Schritte hallten von den Wänden wieder. Alle taten, was er besser auch zu dieser Stunde tat. Sie schliefen.
    Leomar spannte seine Muskeln an um das Zittern für eine Weile zu unterdrücken. Yanna hatte ihn nicht gestattet den Umhang zuzuziehen.
    Ein Schatten ließ ihn aufmerksam werden. Da vorne, am Ende der Straße, dort war jemand. Da war Leomar sich sicher.

    Almaryon sah noch weit von sich entfernt eine dunkel gekleidete Gestalt. Mit leicht gebeugter Haltung kam sie die Straße herunter, direkt auf ihn zu.
    Panisch suchte Almaryon nach Querstraßen in die er flüchten konnte. Als er keine fand, suchte er seine Umgebung nach einem Versteck ab. Das einzige was er fand, war ein Fass unter einer Hausecke.
    Eiligst überquerte er die Straße, warf einen kurzen Blick in das Fass und als er nur Regenwasser sah, stieg er hinein. Da er sich hin hocken musste und nicht aus dem Fass heraus zu ragen, reichte ihn das Wasser bis über den Bauch. Die Kälte begann sofort damit sich geduldig durch seine Glieder zu arbeiten.
    Vorsichtig lugte Almaryon über den Rand des Fasses und beobachtete wie die Gestalt weiter auf ihn zu kam. Ihren leicht torkelnden, leicht schlurfenden Gang erkannte er sofort.

    Leomar gab sich redlich Mühe den Gang zu imitieren, den Yanna ihn gezeigt hatte. Das linke Bein zog er ein wenig nach, so als ob das Knie steif wäre. Die Füße ließ er über den Boden schleifen. Die Muskeln im Oberkörper spannte er so sehr an, dass er bei jedem Schritt von der einen zur anderen Seite schwankte. Auf diese Weise würde es eine Weile dauern bis er das Ende der Straße erreichen würde.
    Seinen Blick hatte er fest auf die Stelle gerichtet, an der er den Schatten gesehen hatte.

    In Almaryons Fass wurde der Geruch nach Verwesung immer stärker. Almaryon traute sich nicht mehr über den Rand zu schauen. Jeder knirschende Schritt dröhnte in seinen Ohren. Almaryons Blick war Star auf die Maserung des Holzes gerichtet. Mehr als die Schritte, den Gestank und den kleinen Punkt der Maserung vor seinen Augen, nahm er nicht mehr wahr.

    Leomar näherte sich einem verborgenen Schatten.
    Seinen Geruch konnte sie schon lange wahrnehmen, doch er selbst blieb durch das hervorstehende Haus verborgen.
    Als er hinter der Ecke hervor kam, lächelte ihn eine Frau in leichter, luftiger Kleidung an.
    Die hellrosa Stoffe waren durchsichtig, so dass Leomar selbst im schwachen Licht viele Details ersichtlich waren.
    „Hallo Schöner. Kann…“ Sie brachte ihren Satz nicht zu ende. Stattdessen stolperte sie sprachlos einige Schritte rückwärts. Sie beäugte Leomar ängstlichen. „Rahja steh mir bei. Wer seid ihr? Was ist mit euch geschehen?“
    Leomar grinste schief und ließ das Knurren aus seiner Kehle dröhnen, dass er auch bei dem Betrunkenen benutzt hatte. Mit ausgestreckten Fingern wankte er der Diene entgegen. Panisch schreiend ergriff sie die Flucht.
    Mit dem bekannten, wohligem Gefühl unter dem Herzen verließ er den Ort seines Überfalls und gab sich in einer stillen Ecke dem Gefühl des Sieges hin. Noch einmal lief er sich seinen Streich vor Augen und badete in den Gefühlen.

    Almaryon wartete mit stolpernden Herzschlag im Wasserfass bis die Schritte an ihm vorüber gezogen waren.
    Mit dem schwindenden Gestank kehrten auch seine anderen Sinne zurück. Vorsichtshalber wartete er noch eine Weile im Fass, horchte in die Nacht und sog prüfen die Luft ein. Doch außer den Geräusch in der Nacht war es still.
    Vorsichtig lugte Almaryon aus seinem Fass. In der Richtung aus der die Gestalt gekommen war, sah er nichts als dunkle Häuser, gespenstisch durch die Nacht erleuchtet. Auch in der anderen Richtung erhoben sich nur graue Fassaden. Vom Untoten war keine Spur zu sehen. Sicherheitshalber verließ er die Gegend mit schnellen Schritten und aufmerksam bebenden Nasenflügel.

  • Kapitel 4.2

    Yanna war drauf und dran nach Leomar zu
    sehen. Nervös blickte sie die Straße hinunter, wanderte auf und ab.
    Immer wieder sah sie nach Geräuschen und Schatten. Doch jedes Mal
    fehlte der beißende Geruch der Leomar voraus eilte. Dann endlich,
    Stunden nach dem Yannas Mädchenschreck in die Nacht verschwunden
    war, bemerkte sie das erste schwache kribbeln in der Nase. Wenig
    später bog Leomar mit großen und glänzenden Augen in die Gasse
    ein.

    „Und?“ Yanna rieb sich ihre
    feuchten Hände an Kleid trocken. „Ist alles gut gegangen?“

    „Es lief so gut wie nie zuvor.“
    Noch immer von Glücksgefühlen überwältigt ergriff er Yanna Hände.
    „Die Verkleidung war eine wundervolle Idee von euch. Der Geruch
    verbreitet schon Angst bevor ich überhaupt gesehen werde.“

    Yanna nickte verständnisvoll.

    „Und wenn sie mich dann sehen, schon
    Angst erfüllt, mit großen Augen, dann fällt Ihnen jeder Glaube aus
    dem Gesicht.“ Leomars Begeisterung kannte kein Ende.

    Yanna ließ sich von ihm noch einmal
    alle Einzelheiten des Überfalls erzählen und Leomar tat ihr den
    Gefallen nur zu gerne.

    Weite
    Flügeltüren nahmen die komplette Front des rotziegligen Gebäudes
    ein. Über den Türen waren weite Markisen angebracht. Drei
    Stockwerke hoch, erstreckte sich der Bau in die Höhe und ganz oben,
    direkt unter dem Spitzgibel erstreckte sich ein erhabenes
    Fuchsrelief. Direkt vor den Eingangstüren begann Rivas Markt.

    Almaryon schlängelte sich durch das
    Gewühl und trat durch eine der Türen. Warme und dunkle
    Holztäfelungen empfing ihn. Immer wieder unterbrochen von großen
    Gemälden, die direkt auf die Mauern gemalt worden waren. Auf einem
    erkannte Robertét einen Taschendieb bei der Arbeit, auf einem
    anderen einen Händler und seinen Kunden. Wiederum andere sagten ihm
    nichts. Möglich, dass sie die Stadtgeschichte darstellten. Die
    Andachthalle, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, erschien
    durch die Täfelung gemütlich und klein. Sie erinnerte Robertét an
    die Rastsäle, die er im Mittelreich gesehen hatte. Lediglich die
    gewaltige, goldene Fuchsstatue in der Mitte des Raumes, störte das
    Bild. Der Fuchs war in einer Bewegungshaltung gefangen, einen
    geschlagenen Vogel in den Fängen.

    Das Treiben war im Tempel nicht
    weniger, als auf dem Markt davor. Überall standen Händler,
    feilschten, schlossen Verträge, ließen sich von Geweihten beraten
    oder brachten Phex Gaben dar.

    Almaryon ließ etwas Geld in den
    Opferstock fallen und ging dann zielstrebig auf einen der
    Tempeldienerin zu.

    „Phex zum Gruße.“

    „Auch euch grüßt Phex. Wie kann ich
    euch zu Diensten sein?“

    „Ich hätte einige Fragen an euch.“

    „Dann kommt.“ Die Frau in der
    grauen Gewandung führte Almaryon heraus aus dem Getümmel, in einen
    verwinkelten Gang. Von diesem gingen zahlreiche kleine Räume ab in
    denen mit mehr Ruhe gehandelt werden konnte. Die Räume, von ihrer
    Größe her eher Kammern, waren einfach eingerichtet. Auf dem, mit
    Fellen ausgelegten Fußboden, lag alles was zum Abschließen von
    Verträgen benötigt wurde. Papier, Tinte, Schreibbretter,
    Rechenschieber, Schrittmaß und noch einiges mehr.

    Die Geweihte bot Almaryon einen Platz
    auf dem Fell an und zog einen leichten Vorhang vor den Durchgang.

    „Welche Fragen kann ich euch
    beantworten?“

    „Ich bin neugierig auf euren Beruf.“

    „Euch interessiert das Geweihtentum?
    Neue Akoluthen sind Phex stets willkommen.“

    „Was muss ich sein um Geweihter zu
    werden?“

    „Zuerst steht eine lange Zeit der
    Prüfung vor euch. Es wird Hingabe von euch gefordert,
    Opferbereitschaft und Ehrgeiz.“

    „Was kommt nach der Prüfungszeit?“

    „Dann beginnt die Zeit der Ausbildung
    als Novize. In vier Jahren lernt ihr alles über Phex, seinen Glauben
    und wie ihr ihm dient. Wenn ihr auch die Prüfung in dieser Zeit
    übersteht, dann werdet ihr zum Priester geweiht. Doch auch diese
    Jahre bringen viel Entbehrung und unzählige Erfahrungen mit sich.“

    „Was sind die Aufgaben eines
    Geweihten?“

    „Sie helfen Gläubigen bei
    Glaubensfragen, verbreitet den Glauben, arbeitet bei den
    Gottesdiensten. Darf ich fragen, warum Ihr euch der Phexkirche
    anschließen wollte?“

    „Ja, natürlich. Ich lebe seit ich
    denken kann auf der Straße und habe immer mit Glück als alle
    anderen gehabt. Jetzt möchte ich mich erkenntlich zeigen.“

    „Das wird Phex gefallen, solange ihr
    nicht zu ihm kommt um die Straße hinter euch zu lassen.“

    „Soll mich der Blitz auf den
    Donnerbalken treffen, wenn es so wäre. Nein, wenn die Möglichkeit
    besteht, möchte ich nicht nur ein einem Tempel arbeiten."

    "Die Möglichkeit hättet ihr, als
    reisender Geweihter."

    "Welche Unterschiede gibt es zum
    normalen Tempeldienst, abgesehen vom offensichtlichen."

    "Nur bedingt. Ihr verbreitet Phex
    Lehren in Orten wo es keine Tempel gibt, haltet dort Messen, macht
    eigentlich den Dienst wie in jedem Tempel auch, nur das jeder Ort ein
    Tempel ist, so lange ihr euch dort aufhaltet."

    "Das klingt außerordentlich
    interessant."

    "Mehr kann ich euch aber nicht
    erzählten."

    "Warum das nicht?"

    "Wenn ihr mehr wissen wollt
    erwartet Phex etwas mehr Anstrengung."

    "Darf ich euch dennoch eine
    abschließende Frage stellen?"

    "Stellen könnt ihr sie. Ich werde
    sie euch nach Möglichkeit auch beantworten."

    "Gibt es Phexgeweihte die sich
    nicht als solche zu erkennen geben?"

    "Nicht jeder Dieb, Händler oder
    Gaukler ist was man auf den ersten Blick sieht. Doch auch nicht
    jeder, der den Fuchs offen vor sich her trägt muss zwangsläufig für
    den Fuchs arbeiten."

    "Ich danke euch für eure Zeit und
    eure Auskünfte." Almaryon erhob sich.

    "Phex stehts zu diensten."

    Die Geweihte führte Almaryon zurück
    in den Eingangsbereich und gab ihm noch einen Namen mit, wo er sich
    melden konnte, wenn er seine Entscheidung getroffen hatte.

    Ein letztes Mal bedankte Almaryon sich,
    bevor er den Tempel verließ.

    Mit dem Kopf voller Gedanken, die er
    sorgsam zu sortieren versuchte, machte sich auf den Weg zum Brunnen.

    Mit einem breiten Lächeln erzählte
    Almaryon Kindern mit leuchtenden Augen noch einmal die Geschichte von
    Gahan und Nadia. In einer Pause flirtete er mit einer jungen Magd.

    Als die Praiosscheibe den Horizont
    küsste, küsste Almaryon das Gesicht der Magd in Wein. Glück hatte
    er bei dem Mädchen nicht gehabt. Nun saß er in seinem Zimmer,
    bastelte an einem Steckenpferd und trank Wein aus einem kleinen
    Tonbecher.

  • Etwa zur selben Zeit traf sich Yanna mit Leomar. Deutlich früher als bisher wollte sie ihn für die Nacht ausrüsten. Sie waren so früh verabredet, dass Yanna die Stallungen der Stadtgardisten mied, aus Sorge entdeckt zu werden. Stattdessen hatte sie Leomar zu Karons Wagen beordert.
    "Dieses Mal werdet ihr für mich zwei Frauen erschrecken."
    "Zwei bestimmte?"
    "Nein. Hauptsache ihr erschreckt zwei in dieser Nacht."
    Leomar war etwas mulmig zumute. Er war sich nicht sicher wie es schaffen sollte zwei Opfer zu finden. Bisher hatte er stets fast die ganze Nacht gebraucht um ein Opfer zu finden. Wie sollte er da zwei schaffen. Er konnte einen enttäuschend Gesichtsausdruck nicht gänzlich unterdrücken, bemühte sich aber redlich Yanna nichts merken zu lassen.
    "Wie ihr wünscht."
    "Am besten ihr postiert euch dieses Mal in der Nähe des Marktes. Auf der Südseite, wo die Wohnhäuser an den Tempel angrenzen.", Sagte Yanna, während sie Leomar mit Kohle schminkte.
    "Aber werden dort nicht zu viele Menschen sein?"
    “Zuwenig wäre wohl eher schlecht.“
    „Und die Gefahr dass ich erwischt werde?“
    „Ihr hattet reichlich Übung. Ihr werdet schon nicht erwischt werden. Und selbst wenn, was tut ihr schon anderes als Mädchen erschrecken.“
    Leomar war beruhigt und ließ die Vorfreude wieder seine Brust erfüllen.
    Ein halbes Stundenglas später schlich er blutbeschmiert und stinkend in der Nähe des Marktes um die Wohnhäuser. So früh am Abend waren noch viele Menschen auf den Straßen unterwegs, so dass Leomar sich bemühen musste Versteck zu bleiben. Er musste sich sehr auf seine Umgebung konzentrieren. Ständig saß ihm die Angst im Nacken, dass jemand aus einer der Haustüren hinter ihm kam und ihn entdeckte. Langsam kroch die Nacht in die Straßen und das Treiben auf den gepflasterten Wegen lichtete sich. Leomar schöpfte Hoffnung nun bald ein Mädchen zu finden.
    Ein Mädchen zu finden. Es seufzte über den Gedanken. Könnte er doch nur eines dieser zarten Mädchen für sich gewinnen. Bis vor einer Woche hatte er nicht einmal gewusst dass es so schöne Mädchen gab, deren Anblick bei ihn Gänsehaut verursachte. Nun liefen sie ständig mit ihren ebenso schönen Freundin an ihm vorbei, während er sie sehnsüchtig aus den Schatten beobachtete.
    Mit geschlossenen Augen rief er sich ein junges Mädchen in Erinnerung, dass er vorletzte Nacht gesehen hatte. Sein geistiges Auge malte ihre blasse, rosige Haut auf den schwarzen Grund, fügte die langen, braunen Haare, feinen wie Spinnenweben, hinzu. Leomar erinnerte sich an ihr weißes Kleid mit der blauen Borte, die ausladend weiche Hüfte, die sich darunter abzeichnete.
    Die Erinnerung ließ das Mädchen noch einmal die Straßen herunter schreiten. Der wiegende Gang ließ ihre Brüste sich leicht heben und senken. Leomar stellte sich vor wie er den dünnen Hals des Mädchens küsste. Nur schweren Herzens konnte er such von dem Bild in seinem Kopf trennen.
    Die Straße war inzwischen dunkler und leeren geworden. Plötzlich steckte ein schwarzer Olporter seine vor Speichel triefende Nase in den Schatten, saugte die Luft ein und war verzückt von dem süßen Blutgeruch im betäubenden Gestank.
    Mit angehaltenem Atem drückte Leomar sich tiefer in den Schatten. Obwohl er kniete war der Hund noch ein Stück größer als er und dessen schwarze Knopfaugen blickten ausdruckslos auf Leomar hinab. Vorsichtig schnüffelnd kam die Nase näher.
    „Pst. He. Verschwinde großer.“, raunte Leomar.
    Der Olporter ignorierte die Aufforderung.
    Sanft drückte Leomar die Sabberschnauze von sich weg.. Sofort kehre sie zurück und beschnupperte die Hände. Vier Mal, fünf Mal, jedes Mal energischer, drückten die Hände gegen das feuchtpelzige Gesicht. Erst ein scharfer Pfiff und ein Ruf brachten die gesuchte Erlösung.
    Schweiß und Blut rannen über Gesicht und Körper. Langsam traute sich Leomar einzuatmen und nach einen tiefen Zug der verpesteten Nachtluft, die nach schaler Freiheit schmeckte, beruhigte sich sein Körper wieder. Er nahm sich noch Zeit Ruhe zu finden und sich von seinem Schrecken zu erholen. Dann aber widmete er sich wieder seiner Aufgabe.
    Sein erstes Opfer fand Leomar nicht, es lief ihm praktisch zu. Genauer gesagt lief sie ihm in die Arme. Warum sie seinen wiederwärtigen Gestank nicht bemerkt hatte verstand er selbst nicht. Wie aus dem Nichts stand dieses zarte Wesen plötzlich vor ihm, sah ihn mit großen, überraschten Augen an. Mit aufsteigender Angst musterte sie Leomar und blieb an seinem Blick hängen. Ohne, dass er eine Regung zeigen musste schrie das Mädchen.
    War sie wirklich noch so jung oder doch schon eine reife Frau? Leomar rätselte über das was die Nacht in Schatten hüllte. Neugierig trat er vor und streckte die Hände aus. Nicht nach ihrem Hals, sondern nach ihrem Körper. Nach dem was sich unter dem Stoff verbarg. Die spitzen Schreie hörte er dabei kaum.
    Viel deutlicher aber spürte er die Enttäuschung als die Begehrte eiligst das Weite suchte. Anders als sonst überkam Leomar nur eine schwache Woge aus Freude. Doch er wollte der Enttäuschung keinen weiteren Platz einräumen. Er hatte ja noch eine weitere Möglichkeit in dieser Nacht.
    Zielstrebig suchte er in den Straßen nach einem zweiten Opfer. Er wollte so schnell es nur ging seinen Auftrag abschließen. Er musste doch noch Zeit haben seinen Erfolg zu genießen. Also beeilte er sich so sehr er nur konnte. Inzwischen arbeitete er nicht mehr für Yanna, ihr Gold oder ihre Anerkennung, sondern ausschließlich für dieses warme Gefühl und das Kribbeln im Bauch.
    Irgendwo in diesen schwarzen Gassen musste doch noch jemand unterwegs sein. Fast panisch bog er immer wieder ab. Kurz tauchte der Gedanke auf wie lange er diesen Stress wohl noch aushalten würde. Die Erinnerung an seine Tage als Schlepper verdrängten ihn jedoch schnell wieder.
    Leomar konzentrierte sich wieder darauf wo er ein Opfer finden konnte. Immer wieder sah er zum Himmel um festzustellen ob der Morgen schon graute. Anfänglich hielt er es für eine Einbildung die dann langsam zur Gewissheit wurde. Im Rahja färbte sich die Nacht hell und die Sterne begannen zu verblassen.
    Leomar kam eine Idee die ihn zwar aus der Gegend führte, aber seine Möglichkeiten auf ein Opfer zu treffen deutlich erhöhte. Um diese Zeit oder in der nächsten Stunde würden sich die Hausmädchen auf den Weg machen um ihren Dienstherren ein ordentliches Frühstück zu bereiten. Zahlreiche junge Mädchen, den Kopf voller Gedanken an die Arbeit. Stolz auf seine gute Idee und den Bauch endlich wieder vom wohligen Kribbeln erfüllt machte er sich rasch auf den Weg.
    Das Bild um ihn herum wandelte sich. Aus den Spitzgiebeln der wohlhabenden Händler im Krämerfried wurden die Stufengiebel der Stadtelite, das Fachwerk wurde aufwändiger. Statt Staub gab es Rasen und Gärten. Hecken, Zäune und Mauern sicherten ein Maß an Privatsphäre. Aus den ersten Schornsteinen stieg Rauch. Hätte Leomar nicht seinen eigenen Gestank in der Nase gehabt, dann hätte er die ersten blühenden Rosensträucher und die Kräuter riechen können.
    Irgendwo in diesen Straßen, in denen sich das Grau in saftiges Grün und helles Braun verwandelte, wurde Leomar fündig. Ein Hausmädchen das seine Jugend schon eine Weile hinter sich gelassen hatte trat durch das eiserne Tor, welches den einzigen Durchgang in einer dichten Hecke darstellte.
    Mit einem Quietschen zog sie das Eisengitter hinter sich zu. Die Haare zum Dutt gebunden, so straff dass die ersten Falten aus dem Gesicht gezogen wurden, bog sie in die Straße ein, in der ein lebendiger Toter auf sie wartete.
    Er nutzte den letzten Rest der Dämmerung um sich in der Hecke zu verbergen. Mit dem Rücken dicht in das Grün gepresst beobachtete er wie das Hausmädchen auf ihn zu kam. Er sah wie sie am Straßenrand nach dem toten Tier suchte von dem dieser unbeschreibliche Gestank ausgehen musste.
    Geduldig wartete er regungslos bis das Hausmädchen nahe genug war, dann sprang er mit lautem Knurren hervor. Mehr als seinen Geruch, das verschmierte und getrocknete Blut und die mit Kohle gezeichneten Umrisse von Muskeln brauchte es nicht um das Hausmädchen schreiend in die Flucht zu treiben.
    Genau so schnell verschwand Leomar in die andere Richtung. Jemand der sich ein Hausmädchen leisten konnte, konnte sich mit Sicherheit auch eine Wache leisten. Und selbst wenn nicht, waren diese Bürger Rivas ganz bestimmt mit dem besonderen Schutz der Stadtgarde gesegnet. Sich vor diesen Kampfkolossen im hellen zu verstecken war unmöglich.
    So schnell wie das Grün kam, so schnell wich es jetzt wieder dem Staub. Hinter der Stadtmauer tauchte das erste Gold der Praiosscheibe auf. Noch immer keine Zeit den Triumph zu genießen. Leomar versuchte sich zu orientieren, fand seinen Weg und verlor ihn wieder aus den Augen. Häufig musste er eine andere Richtung einschlagen um dem aufkommenden Leben in den Straßen zu entgehen.
    Mit jedem Meter den er dichter an den Wagen kam wo Yanna auf ihn warten wollte, stieg sein Adrenalinspiegel. Die ersten Karren mit Waren rumpelten über das Pflaster, dazwischen Reisende, Abenteurer, Diener und Frühaufsteher. Niemandem zu begegnen wurde mit jeder Minute schwerer und war inzwischen praktisch unmöglich. Der Rausch des Adrenalins wandelte sich zuerst in Unruhe und als er feststellte, dass er ja noch über die Kvillbrücke musste, in Angst und schließlich in kopflose Hektik. Sie lies aus Leomars leisen, überlegten Schritten ein Rennen werden.
    „Beeil dich, lauf. Nun mach schon. Nein, da entlang du Wahnsinniger.“ Irgendwie musste es doch zu schaffen sein. Leomar schlug hin.
    Schwärze sickerte in sein Blickfeld und über sein Gesicht lief etwas warmes. Der Lebenswille in ihm kämpfte mit aller Macht gegen die Bewusstlosigkeit. Immer wieder verschob sich die Front. Leomar sah seine Umgebung mal klar, mal von einem dunklen Schleier verhüllt. Schließlich gewann das Leben, schwer angeschlagen, und der Wille weiter zu laufen und Schutz zu finden.
    Mit dem Bewusstsein kam ein stechender Schmerz. Leomars ganzes Gesicht brannte. Auch seine Wade und das Knie fühlten sich heiß an. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Sofort wurde der Schmerz noch brutaler. Die Hand war rot von frischem Blut.
    Am liebsten hätte Leomar sich einfach fallen lassen, doch er durfte sich so nicht finden lassen. Niemand würde ihm, so wie er aussah, irgendetwas glauben.
    Also stand er mühsam auf. Bei jedem Versuch das Bein zu belasten warnte es ihn deutlichst davor. Bei jedem Schritt hielt er den Atem an um den Schmerz zu unterdrücken. Worüber war er da eigentlich gefallen?
    Auf dem Boden lag ein großes Gitter, schmiedeeisern, noch ohne jeden Rost. In Länge und Breite maß es je einen Schritt. Die Abstände zwischen den einzelnen Stäben waren gerade groß genug, dass ein Fuß dazwischen hängen bleiben konnte. Unter dem Gitter lag ein Schacht. Neugierig humpelte Leomar näher.
    Das musste einer der Eingänge in die Kanäle sein die seit kurzem unter dem Aelderfried gebaut wurden und zum Teil auf alten Geheimgängen der weit entfernten Vergangenheit beruhten. Eine neue Erfindung die für Sauberkeit in den Städten sorgen sollte.
    „Tunnel, was für eine neue Erfindung.“, höhnte Leomar durch den Schmerz. Ihm hätte sie fast das Genick gebrochen. Da konnte sie ihm nun auch dienlich sein. Ein dunkler, stinkender Ort war genau das was er jetzt brauchte. „Wundervoll.“
    Er versuchte das Gitter anzuheben. Erst unter Einsatz beider Hände und aller Kräfte die ihm noch verblieben waren, schaffte er es das schwere Eisengeflecht so weit bei Seite zu schieben dass er hindurch passte.
    Kraftlos ließ er sich den Schacht hinunter fallen und landete eineinhalb Schritt tiefer auf einem Plateau aus nassen Steinen. Vor ihm ging eine Leiter in die Tiefe. Das Sonnenlicht leuchtete eine schier unendlich breite und hohe Halle aus, getragen von einer Vielzahl Säulen. Das einfallende Sonnenlicht wurde vom Wasser auf dem Grund der Halle gebrochen und als abertausend Sterne an die Decke projektiert.
    Mit wackeligen Beinen und glasigem Blick schaute Leomar einen Augenblick auf die Lichtreflexe. Das Tanzen verschwamm vor seinen Augen und ungewollt setzte er sich.