Ich werfe mal einen Text aus meiner leider noch nicht im Drucksatz befindlichen Schattenspielhilfe ein, die in Auswertung der Tharun- und Myranor-Bände und im Dialog mit einem der daran beteiligten Autoren, hier im Forum aktiv als Tharex, entstanden ist.
Arkan’Zin, der Schatten des Praios
»Wer hebt seinen Stab, wenn der Knochenkrieger naht? Bel-Arcansin, der Gerechte! Wer tritt aus dem Schatten, wenn die Ghulenhorde raubt? Bel-Arcansin, der Rächende! Wer blickt dem Schädelgott ins Angesicht, mit glühenden Augen und schwarzem Gehörn? Bel-Arcansin, der Höchste!«
—Über Bel-Arcansins Recht und Rache, Gebet seiner Anhänger in Viralis, Anthalia (Zitiert nach “Die Welt der Schwertmeister”, S. 21.)
Auch der Sonnengott Praios, der wohl wie kein anderer Unsterblicher dem Prinzip des Lichts verbunden ist, hatte womöglich einst einen Schatten. Dieser erwuchs ihm daraus, dass er der Sonne so eng verbunden ist, dass man sie und ihn nicht sauber unterscheiden kann. Die Sonne ist ein fester Körper und der größte Spender für das Licht in der Schöpfung, was dem sie verkörpernden Gott die Macht verlieh, einen Schatten auszubilden.
In den Erzählungen der Unsterblichen Chalwen wird der Gott Arkan’Zin als wichtige Gottheit des Zweiten Zeitalters genannt, deren genaue Rolle allerdings nebulös bleibt. Es erscheint offensichtlich, dass er mit Praios in Verbindung steht, als sein Konkurrent, Widerpart oder eine Art dunkle Version seiner selbst.
Arkan’Zin führt heute das Pantheon der Tharunischen Acht- bzw. Neu(n)götter an, beansprucht also eine Rolle, die jener des Praios als Götterfürst bzw. Oberster Richter Alverans ähnelt. Die Richterrolle ist es auch, die er am liebsten bekleidet. Er zählt als Gott des Gesetzes, dessen Diener, die bis zu elfgehörnten Schatten namens Arkanai, ihm behilflich sind, Frevler zu bestrafen.
Er gilt außerdem als Zerstörer der tharunischen Sonne Glost. Die neue Sonne der Hohlwelt soll der Gott Sindayru aus seinem (Sindayrus) Ea’Myr, seinem Stirnauge, geschaffen haben, weshalb sie Auge des Himmels genannt wird. Je zwei Stunden lang leuchtet sie in der Farbe eines von sieben der Achtgötter. Zehn Stunden lang bleibt sie dunkel, zum Lobe Arkan’Zins, der in Tharun als Gott der Dunkelheit verehrt wird. Er ist somit, genau wie die übrigen Götter Tharuns, als mit der Sonne in Verbindung stehende Entität zu betrachten und ähnelt insofern dem Sonnengott Praios, allerdings steht er, anders als dieser, nicht für das Licht, sondern für das gegenteilige bzw. komplementäre Prinzip. In Ghurenia kennt man ihn unter dem Namen Arcan’Szin zudem als Gott des Gesetzes und der Nacht. Er vereint dort also ebenfalls ein Praios zugeordnetes und ein ihm entgegengesetzes Prinzip.
Mit Blakharaz, dem Erzdämon der Rache, Gegenspieler des Praios, teilt Arkan’Zin sich den Racheaspekt. Auch sein Erscheinungsbild wirkt dämonisch, wird er doch in Tharun und Myranor meist als Schattenriss einer elfgehörnten Kuttengestalt mit Richterstab und glühenden Augen beschrieben. Seine Diener, die Arkanai, ähneln ebenfalls gehörnten Dämonen, die man in Myranor als der dämonischen Quelle Tyakaar zugehörig betrachtet. Und auch der unversöhnliche Hass dem Namenlosen gegenüber, der sogar ihre Feindschaft zu Praios übersteigt, verbindet die beiden Entitäten. Zuweilen wird deshalb eine Identität Arkan’Zins mit Blakharaz angenommen.
Die Mythologien des Arkan’Zin und des Blakharaz vermengt hat um 4.050 v. BF/300 v. IZ auch ein Paktierer der Domäne Tyakaar, der sich bei den Rhesiern für mehr als ein Menschenalter als Wahrer Erwählter des Schwarzen Braianos (auch bekannt als Arcansin, dunkler Schatten Brajans) etablierte. Er wurde zum tyrannischen Herrscher des gesamten Rhesisch-Trivinischen Reichs. Neben einer Reihe von Eroberungskriegen machte er sich einen Namen dadurch, dass er den populär gewordenen Kult des Goldenen Gottes bekämpfte. Der Kult des Arcansin, der auf die Zeit der Glaubenskriege zurückgeht und unverkennbare Verbindungen zur Domäne Tyakaar aufweist, wird heute vielerorts streng verfolgt.
Trotz seiner eher finsteren Aspekte ist die Einordnung Arkan’Zins als Erzdämon nicht plausibel. Zu sehr ist er der Ordnung, der Schöpfung und ihren Prinzipien verpflichtet. Die Azarai Arkan’Zins, die schwarze Hörnermasken tragen und nachts nicht immer leicht von den Arkanai zu unterscheiden sind, bedienen sich karmaler Mittel wie die Priester der übrigen Acht- bzw. Neu(n)götter. Ihre Wunder und Liturgien können Dämonisches in die Welt bringen, es aber ebenso gut verbannen und auslöschen.
Stattdessen ist der Auffassung der Vorzug zu geben, Arkan’Zin habe sich im Fünften Zeitalter in die Niederhöllen begeben, um die mit dem Widersacher verbündeten Jenseitigen zu bekämpfen. Dabei sei ein Teil seiner Selbst durch das Chaos verdorben und bei seiner Rückkehr von ihm abgespalten worden. Dieser verkommene Teil sei dann zum Erzdämon Blakharaz mutiert. (Nach anderen Auffassungen ist Blakharaz ein gefallener Abkömmling oder Arkanai des Arkan’Zin.) Bis heute existieren Wechselwirkungen zwischen beiden Entitäten, nicht nur, weil die dämonischen Arkanai aus der Domäne des Blakharaz dem Arkan’Zin dienen, sondern auch, weil die niederhöllische Sphäre des Erzdämons der Rache von einer untypischen Ordnung durchzogen ist.
In diesem Zusammenhang erscheint Arkan’Zin als ein Gott, der maßgeblichen Anteil daran hatte, dem Widersacher seinen Namen zu rauben und ihn ins Nichts zu verbannen, wie die tharunische Überlieferung zu berichten weiß. Die zwölfgöttliche Lehre sieht diese Rolle bei Praios.
In Myranor erkennt man den Arcansin nicht als Widerpart des Praios, sondern als eine Gottheit aus seinem Gefolge. Mysterienkulte bezeichnen ihn als “Dunklen Schatten des Brajan”.
In Mirham indes nennt man den Herrschergott Arcacine, der in geheimen Kult-Zirkeln Verehrung findet. Auch hier sind deutliche Parallelen zu Praios und seinen Aspekten zu erkennen.
Es drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass es sich bei Arkan’Zin um den abgespaltenen und nunmehr eigenständig handelnden Schatten des Praios handelt. Der Sonnengott steht für das Licht, das ohne Dunkelheit bleibt. Auch in seinem Reich gibt es keinen Schatten. Arkan’Zin indes erscheint als Gott der Dunkelheit und der Nacht, der aber trotzdem der tharunischen Sonne verbunden ist. Kann Praios seine dunklen, gnadenlosen Seiten als seinen Schatten von sich selbst abgespalten haben? Sind Arkan’Zins Hörner in Wahrheit die Schatten der Strahlen von Praios’ Sonnenkrone?
Bedarf an einem solchen Vorgehen könnte während der Gigantenkriege des Zweiten Zeitalters sehr wohl bestanden haben. Während es einem strahlenden Gott wie Praios gewiss nicht möglich war, sich unbemerkt dem Feind zu nähern, könnte dies seinem Schatten, der Dunkelheit, der Nacht und der Heimlichkeit verbunden, sehr wohl gelungen sein. Als Gott der Gerechtigkeit kann Praios keine Vergeltung an den Kriegsgegnern üben, doch was sollte seinen Schatten mit dem Racheaspekt daran hindern?
Als einem der mächtigsten Götter dieses frühen Zeitalters war es Praios gewiss möglich, eine Entität aus sich herauszulösen, selbst eine, die ihrerseits Karma zu spenden in der Lage ist. Das zeigt auch der weitere Fortgang des Äons, in dessen Verlauf Praios die Gottheit Ucuri von sich abspaltete, um sie als seinen Herold zu den Giganten zu senden.
Wenn es stimmt, dass Schatten und Herrschaft gegensätzliche Prinzipien sind, erklärt dies, warum Praios, als er in der Nachfolge des Goldenen Gottes zum Obersten Richter aufstieg und damit zur Verkörperung dieses Prinzips, in Opposition zu seinem Schatten geriet.
Sollte Praios tatsächlich seinen Schatten aus sich herausgelöst haben, erscheint der Namenlose, der im Siebten Zeitalter als Teil seiner Selbstverstümmelung seinerseits seinen Schatten, das Rattenkind, von sich abspaltete, als eine Art kosmischer Plagiator, der lediglich nachahmt, was Praios ihm einst vorgelebt hat.
Auch im Übrigen weist Arkan’Zin Schattenaspekte auf. Mit der Liturgie “Herrschaft der Rache” können die Arkanai des Arkan’Zin den Schattenmeuchlern, Dämonen, die in Antagonismus besonders zu Ojo’Sombri stehen, ihren Willen aufzwingen. (Siehe “Wege nach Tharun”, S. 191.)
Die Arkanai gelten als die Abgesandten der tharunischen Rachegottes Arkan’Zin und als Repräsentanten seiner göttlichen Macht. Faktisch sind sie Schattenmeuchler-Dämonen, wie sie sich in der Domäne des Blakharaz finden. Gerufen werden sie allerdings durch die Azarai des Arkan’Zin auf karmalem Wege und ahnden dann effizient Verstöße gegen die göttliche Ordnung.
Zuweilen treten sie ungebeten auf, weil sogenannte Morguai, ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Morguai sind mutierte Runenherren und nicht selten Schattenwesen, die über keinen Geist-Stein verfügen oder von einem Sombrai mit astraler Kraft ausgestattet werden, sodass sie ihre Lebenskraft und die anderer Wesen zum Zaubern benutzen. Ihre als abscheulich geltende Lebensweise wird nicht nur von den Arkanai, sondern auch von den Azarai und den Sombrai unbarmherzig verfolgt. Zwar verstehen die Tharuner meist beide Wege der Runenmagie nicht und vermögen sie auch nicht zu unterscheiden, doch liegen Sombrai und Morguai aufgrund ihrer unterschiedlichen Haltung zur Magie und zur göttlichen Ordnung in einem ewigen Krieg miteinander. Morguai gelten als verfemt und halten sich deshalb meist abseits der Höfe verborgen, um ungehindert den Weg des Blutes beschreiten zu können. Um ihre magische Kraft aus der Lebenskraft anderer Geschöpfe beziehen zu können, schrecken manche von ihnen nicht einmal vor Todesriten und Morden zurück. Einige Morguai häufen große Macht an, erschaffen Untote und seelenlose Monstren und entwickelt selbst zunehmend vampirische Züge.
Das Verfolgen von Schattenwesen und Dämonen und denjenigen, welche sich mit ihnen eingelassen haben, obliegt den hohen Arkanai, also sieben- oder achthörnigen. Ihr Auftreten deutet auf ein verdammungswürdiges Vergehen hin, das ein oder mehrere Racheopfer erfordert. Sucht gar ein neunhörniger Rächer einen ganzen Landstrich heim, wurde offenbar ein massiver Frevel gegen das Wort der Götter begangen.
Auch die Arkanai selbst erscheinen stets als dunkle Schatten, die in körperlange, lichtlose Umhänge gehüllt und mit keulenartigen, schweren Richterstäben bewaffnet sind. (Siehe “Wege nach Tharun”, S. 260.) Ab drei Hörnern können sie sich in Schattenzonen und Dunkelheit unsichtbar machen.
Der Tabernakel des Rächenden Zorns im untergegangenen Archipel Vailen soll jener Ort sein, an dem Arkan’Zin ruhte, nachdem er die Dämonensphäre verlassen hatte. Der Legende nach klammerte er sich an die Wirklichkeit und befleckte sie mit seiner eigenen Verdammnis. Der Turmbau hängt zwischen den Sphären fest. Darin hausen Arkanai, die sich von hier aus unablässig auf die Jagd nach Schattenwesen und anderen Dämonen begeben. Sämtliche Richtersprüche des Rachegottes werden hier bis zum Ende aller Tage niedergelegt. (Siehe “Wege nach Tharun”, S. 265.)
(Die Ausführungen folgen vor allem “Die Welt der Schertmeister” und “Wege nach Tharun”.)