Obwohl das jetzt wirklich total Off-Topic ist:
Laut meinem, etwas antiquiertem Wissensstand über die Literatur der Romantik (stand: ca. Jahrtausendwende) ist die Geschichte von den reisenden und märchensammelnden Grimms wohl eine ziemlich weitgehende Erfindung aus dem Historismus des Kaiserreichs. Wenn mein Prof im Seminar damals recht hatte (und auch der gute Herr. Prof. Dr. Graevenitz konnte sich mal irren), sind nur ganz wenige Besuche der Grimms bei irgendwelchen alten Mütterchen im Umkreis durch tatsächliche Quellen belegt - umgerechnet hätten sie bei jedem "Treffen" mit "Informanten" 7-8 Märchen niederschreiben müssen. Aber selbst wenn sie alle der heute bekannten Grimmschen Märchen "gesammelt" hätten, stark verfremdet und intellektuell überformt wurden sie auf alle Fälle. Die Grimms waren keine Archivare, sondern Autoren mit einem literarischen Programm im Kopf. Wie gesagt, ist nur der Stand der Konstanzer Literaturwissenschaft um das Jahr 2000, falls sich seit dem der Forschungsstand verändert hat: ich bin raus aus dem wissenschaftlichen Tagesbetrieb und lasse mich gerne eines Besseren belehren...
Aber gehen wir einmal davon aus, Sagen, Legenden und Mythen, wie die vom Türkenloch, seien in Aventurien genau so verfügbar wie hierzulande, und ich denke, davon muss man durchaus ausgehen. Wie viel objektiv gesichertes Weltwissen (im Sinne der "grünen Bände") resultiert dann daraus? Statt theoretischer Überlegungen gebe ich zur allgemeinen Anschauung ein Beispiel aus dem alltäglichen Aventurien, so wie ich es mir rein persönlich vorstelle.
Wir befinden uns auf dem alljährlichen Viehmarkt in Sjepensgurken:
Ungolf aus Obersjepengurken: "Also gestern, da waren wieder bewaffnete Kerle bei Wanja in der Taverne. Haben gesoffen wie Löcher und Geschichten erzählt, sag ich dir! Haben behauptet, bei Väterchen Praios, sie hätten im Orkland Nahema getroffen - ihr wisst schon, diese Schwarzhexe!"
Joschi aus Gradnochsjepengurken: "Na, da wird ja wohl der Bronnjar in der Scheune verückt! Mütterchen Nahema! Das ist doch die alte Hofmagierin des Kaisers Hal, der bei uns kürzlich verschwunden ist! Wie kommt die denn ins Orkland?"
Peradescha aus Jetztschonnichtmehrsjepensgurken:"Ach, du bist ja dümmer wie ein Borkenbär! Hat doch schon mein Väterchen erzählt, dass die Nahema eine tulamidische Prinzessin war, welche ist geritten auf einem Tsch... Tsch... Tschiiiin? Und mein Väterchen musste es wissen, ist er doch schließlich gereist bis nach Perricum im Süden!"
Ungolf: Ja, mag schon sein, dass dein Väterchen im Süden war, aber ob er nüchtern genug gewesen ist, die Sachen da auch zu verstehen? Ich aber weiß zufällig genau, wer Nahema wirklich ist: Nahema ist die Tarnung von Zelda, der bösen Oberhexe vom Bornland, wenn sie sich unters Volk mischen will! Und weil Zelda nämlich so hässlich ist, dass die Milch im Eimer sauer wird wenn sie draufguckt, verkleidet sie sich als die wunderschöne junge Zauberin Nahema, um die Herzen der Bauern auf dem Feld zu betören..."
Peradescha: "Das hättest du wohl gern, du unsansehlicher Klotz! Bei dir wird die Milch sauer! Und woher will ein obersjepengurkener Kartoschkentölpel wie du das schon wissen!"
Ungolf: "Das hat mir der Perainepriester nach der Predigt erzählt, und der kann sogar Lesen und Schreiben!"
Joschi: "Ach, ihr habt doch beide keine Ahnung! Aber mein Brüderchen, das fährt jetzt mit den Festumern Shivonen um ganz Aventurien! Der war letztens in Havenna - das liegt im tiefen Süden, kurz vor Brabak müsst ihr wissen - und hat mir erzählt, da steht im Hafenbecken ein alter Turm, da wo die Nahema drin gewohnt haben soll. Aber schon seit mindestens tausend Jahren verlassen ist der Turm, deshalb ist diese Nahema auch ganz sicher längst tot, ihr meschuggen Märchenerzähler!"
Ungolf: "Na, sei's wie es immer sei - aber wie soll nun diese Nahema-Hexe ins Orkland kommen?"
Peradescha: "Na, das ist doch klar wie Meskinne, Ungolf! Die feinen Herren Abenteurer haben dir einen Bären so groß wie der Sjepengurkener Viehmarkt aufgebunden! Wahrscheinlich waren die Strolche auch gar nie im Orkland, immerhin liegt ja das eherne Schwert zwischen hier und da, und da kann ja keiner, wie man allgemein weiß, auch nicht drübersteigen..."
Verlassen wir den Sjepengurkener Viehmarkt, für mein Fazit aus dem - Entschuldigung im Nachhinein - langatmigen Beispiel: Was wissen denn jetzt die drei braven Bauern aus ihrem Mythenschatz über Aventurien? Erstens: Im Grunde ziemlich viel; Zweitens: Im Grunde eigentlich gar nichts. Können sie die "Wahrheit" über Nahema theoretisch kennen? Ja, zumindest in Teilen. Können Sie die Wahrheit vom Märchen, dem Aberglauben, der Lüge, der Übertreibung, Verfälschung, Verwechslung unterscheiden? Sicherlich nicht.