Vielleicht hilft, einmal die andere Seite zu Wort kommen zu lassen:
Die prinzipielle Fehlbarkeit des Menschen, der mangelnde Verstand, die Eitelkeit, und all seine zahlreichen weiteren Makel lassen nicht bloß an seinem Willen, sondern ebenso an seiner Fähigkeit zur Erkenntnis des Göttlichen zweifeln. Selbst falls er dazu fähig wäre, versagten eben diese Makel, welche seine Unfähigkeit bescheinigen, diese Erkenntnis wahrheitsgemäß zu berichten oder gar danach zu handeln.
Gar noch schwerer wiegt der Zweifel an der Erhabenheit des Göttlichen selbst. Steht Praios für das eine, steht Phex für das andere. Wo Tsa vermeintlich Leben schenkt, tötet Boron dieses wieder ab. Travia tötet Lust und nennt dies Treue, als ob das eine nicht mit dem anderen bestehen könnte; schweigsam, aber lüstern blickt der Rahjageweihte auf den Traviabund. Lüstern blickte auch Levthan auf Satuaria – wie erhaben und gut kann göttliche Vergewaltigung sein? Kor lehrt gar Grausamkeit aus Lust an Leid und Gier auf Gold. Los erschlug Sumu; die Schöpfung ging aus wilder Raserei und Mord hervor.
Wollen die Götter das Gute, weil es gut ist, oder ist das Gute gut, weil es die Götter wollen? Mir scheint, letzter näher an der Wahrheit und berechtigt die Frage, ob die Götter überhaupt am Guten interessiert sind.
Neben den Zwölfen existieren zahlreiche weitere Gottheiten, mal mehr und mal weniger mächtig, doch deshalb nicht weniger wahrhaftig und ebenso nicht zwangsläufig weniger gut als der Gott, der als Unsterblicher für sich ewiges Leben verlangt und allen anderen den Tod bringt.
Wie viele Völker wurden bereits von ihren Göttern verlassen und dem Untergang preisgegeben - fragt die Echsen des Südens.
Wer weiß, ob die Geweihten die Gebote ihrer Gottheiten tatsächlich kennen, sie richtig verstehen und ehrlich darüber berichten? Wer mag zu beurteilen, ob die Gottheiten tatsächlich fehlerfrei und gut sind, stets das Beste wollen?
Sicher weiß ich jedoch, dass Propaganda das Mittel aller Gottheiten ist, zielgerichtete Versuche Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und das Verhalten die erwünschte Richtung zu steuern. Ziel ist stets, an eigener Macht zu gewinnen, die Macht der übrigen zu schwächen und letztlich die eigene Existenz zu sichern, dies bedeutet, die Seelen der Sterblichen für sich zu beanspruchen.
Ein aktuelles Exempel zur Verdeutlichung der Misere liefern die religiös und politisch tiefgreifenden Differenzen zwischen puniner und al’anfaner Boronkirche, insofern Geweihte beider Kirchen, trotz eben dieser Differenzen und ungeachtet der Konflikte mit den übrigen der Zwölfe, über Borons Gaben verfügen. Menschenopfer der Al’Anfaner, gar allzu langlebige Hochgeweihte, Gerüchte über Wiedergänger des Borons und viele weitere Beispiele könnten noch genannt werden.
Über Macht zu verfügen, bedeutet nicht, im Recht zu sein. Gott zu sein, bedeutet nicht, gut zu sein. Zu glauben ist etwas anderes als zu wissen.
Ich mag irren, Fehler zu machen ist zutiefst menschlich, aber dann sind dies wenigstens meine Fehler. Ich folge nicht blind einem Gott und ich erwehre mich des Zwangs der Gläubigen, mich zu ihren Vorstellungen zu bekennen und allein ihrem Urteil zu beugen. Ich bin ein freies, denkendes Wesen. Ich habe eine Seele. Ich wähle meinen Weg selbst. Sollte ich einer Gottheit folgen, dann der Gottheit meiner Wahl. Des einen Rebell ist des anderen Held, des einen Dämon ist des anderen Gott. Nicht allein namenlose Finsternis, auch zu viel Licht des Praios’ lässt erblinden, darum hüte ich mich vor einem Übermaß von beidem.
Die Toten weilen nicht mehr unter uns. Sie benötigen ihre Hüllen nicht mehr. Körper sind Werkzeuge. Es wäre schlicht zu schade, sie wegzuwerfen und verrotten zu lassen, bloß weil ihre ursprünglichen Besitzer sie nicht mehr brauchen und auf ewig hier zurückgelassen haben. Wir verbrennen doch auch nicht die Schreinerei, bloß weil der Schreiner verstorben ist. Ich schade niemanden, ich helfe.
Unermüdliche Bergleute beschaffen Stein und Erz, ohne jede Mühsal für die Lebenden. Werden sie in einem Schacht verschüttet, graben sie sich wieder frei oder im schlimmsten Fall ist ein Werkzeug zerbrochen; niemand leidet, niemand stirbt. Karawanen wandern bei Tag und Nacht, Bauern bestellen auch in praller Sonne das Feld, Holzfäller schwingen stetig die Axt, all dies ohne je zu ermüden, ohne schmerzende Füße, frei von Hunger und Durst.
Wer will ernsthaft zugleich glauben, einerseits sei Boron der Gott des Todes, Vergessens und Schlafes, wachend über die Seelen der Verstorbenen in seinem höchst eigenen Reich, doch andererseits ich, ein einfacher Sterblicher, hätte die Macht, durch die Sphären hinweg die Seelen der Toten zu wecken, zu stören und in Erinnerung an ihr altes Leben missgünstig auf ihre für sie völlig nutzlosen Leiber blicken zu lassen. Selbst falls auch nur ein kleiner Teil davon wahr sein sollte, welche Mutter, welcher Vater hätte nicht den Wunsch, auch nach seinem Tod noch für das Wohl ihrer bzw. seiner Hinterbliebenen, geliebte Kinder und Enkel, sorgen zu können? Weshalb sollten mich eventuelle Gier und Missgunst der selbst im Paradies Unzufriedenen daran hindern, etwas nützliches und wahrhaft gutes für meine Gemeinschaft, die Lebenden, zu bewirken?
Der Anblick der Leiber mag nicht für jeden angenehm sein, doch balsamiert, in Tuch gehüllt und für ihre zukünftige Aufgabe recht aufbereitet, ist dies schnell behoben, noch dazu der üble Geruch gebannt und aller Krankheit vorgebeugt. Zudem werde ich gewiss einer finanziellen Entlohnung der Hinterbliebenen, der Erben der zurückgelassenen Hülle, nicht abgeneigt sein.