Schon seit Jahren geht mir diese Hintergrundgeschichte im Kopf herum, jetzt bin ich endlich dazu gekommen, sie zu erzählen. Mit über 18,000 Wörtern ist es mehr als eine Kurzgeschichte, aber noch nicht ganz eine Novelle.
Jeden Tag werde ich euch ein Stück davon vorstellen.
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Valerias Jugendjahre
Karawane
»Valeria Fiorella Margarita!«
Wenn ihre Mutter sie so rief, mit allen Vornamen, konnte dies nur Ärger bedeuten. Margarita war der Name der Mutter ihrer Mutter, einer feinen Dame aus Mirham, die stets zitiert wurde, wenn es um ihr – Valerias – schlechtes Benehmen ging, und Fiorella, die Mutter ihres Vaters und ehemals angesehenste Hafendirne Mirhams, wurde überhaupt nur erwähnt, wenn Valeria ihrer Familie Schande bereitet hatte – jedenfalls nach Ansicht ihrer Mutter.
Valeria stellte einen Fuß nach vorn, zog an Yuziks Arm und warf ihn zu Boden.
»He!« protestierte dieser.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Mama braucht mich.«
Yuzik rappelte sich auf und griff nach ihren blonden Haaren. »Wenn du richtig kämpfst, wird dein Gegner dich auch nicht einfach gehen – uff!«
Schon lag er wieder auf dem Boden.
Sie lächelte auf ihn hinab. »Du hast mich gut gelehrt. Zwing mich nicht dazu, den Nackenbrecher einzusetzen.«
Yuzik grinste zurück. »Schon gut. Erinnere mich daran, dass ich mir gut überlege, wem ich nochmal meine Tricks im Hruruzat zeige.«
Sie nickte ihrem Freund noch einmal zu, bevor sie zurück zu ihrem Wagen rannte. Die kleinen Steinchen des Lagerbereichs, die ihre nackten Füße pieksten, versuchte sie zu ignorieren. Eine Belehrung ihres Vaters wäre erheblich unangenehmer.
Ihre Mutter kletterte aus dem Wagen. »Wo bist du gewesen?« Sie kniff die Augen zusammen und musterte Valeria. »Hast du dich wieder mit dem Moha geprügelt?«
»Er ist Oijaniha«, erklärte Valeria ruhig wie jedes Mal. »Er hat mir Tricks gezeigt, wie ich mich wehren kann.«
»Er ist kein Umgang für dich«, beharrte ihre Mutter. »Anständige Töchter wälzen sich nicht mit dem Pöbel im Dreck. Komm jetzt, wir müssen die Pferde füttern.«
Anständige Töchter wohnten in einer Villa in der Stadt und zogen nicht im Wagen von Fischerdorf zu Fischerdorf, fand Valeria, aber sie widersprach ihrer Mutter nicht. Adelia Marquez legte großen Wert auf Umgangsformen und Erscheinung, auch wenn sie regelmäßig erwähnte, einen anderen Lebensstil verdient zu haben.
Auf keinen Fall würde die wohlerzogene Dame aus feiner Gesellschaft sich selbst dazu herablassen, ihren streng riechenden Zugtieren näher zu kommen als vermeidbar. Striegeln und Füttern der beiden Stuten war demnach die Aufgabe ihrer Tochter Valeria.
Sie zerrte einen Sack Hafer von der Ladefläche des klapprigen Planwagens und ließ diesen auf den harten Untergrund fallen.
»Gib doch acht, Kind!« rief ihre Mutter. »Du verschüttest noch das ganze Futter!«
Valeria gab sich Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Die robusten Futtersäcke hielten viel mehr aus als die feinen Seidenkleider ihrer Mutter – ihr Hemd und ihre Hose, aus alten Futtersäcken genäht, bezeugten dies. Dennoch wuchtete sie sich den schweren Sack lieber über die Schulter, als ihn nach vorn zu den Pferden zu schleifen. Ihre Mutter verstand nicht, wie viel einfacher das war, und ihr Vater war schon aus Prinzip gegen alles, was sein Eigentum beschädigen mochte.
Das Füttern machte ihr nichts aus – Agatha und Alrike, ihre beiden alten Stuten, waren gutmütig und ihrer Pflegerin sehr zugetan.