Weiden im Frühsommer, 19. Ingerimm 1015 BF
Über euch breitet sich der blankgeputzt blaue Himmel aus, an dem nur noch windstill ein paar weiß-graue Schäfchenwolken stehen. Kümmerliche Überbleibsel eines leichten Sommergewitters, das die Nacht über gegrummelt hatte. So schnell, wie es da war, hat sich das Gewitter aber auch schon wieder in Wohlgefallen aufgelöst und eine Landschaft zurückgelassen, die frühsommerlich in Blüte und Leben explodiert, nachdem sie Wasser und Sonne geradezu gierig in sich aufgesogen hatte. Die Weiden an den Ufern des Pandlaril stehen hüfthoch und sattgrün, und die Rinderbarone Weidens haben keine Zeit verloren, ihre gewaltigen Rinderherden dorthin zu treiben. Unter lautem, beinahe ohrenbetäubend lautem "MUH" und "MUUUHHHH" tummeln sich die Viehmassen zu tausenden und abertausenden auf den Weiden, umschwärmt von bellenden Hütehunden und aufmerksamen Weidener Kuhburschen zu Pferd und unter ihren breitkrempigen Hüten. "Yiaaaaahaaaa" und "Yiiiieeeehoo" und Lassoschwünge sorgen dafür, dass keins der Rinder ausreißt. Sie sind raue Gesellen, diese Kuhburschen, die ihr in den letzten Tagen an so manchem Lagerfeuer als ebenso herzlich kennengelernt habt.
Die Kornfelder zeigen ihr erstes Gelb an den Spitzen, und auch in den Feldern wird fleißig zu Werke gegangen. Das Unkraut will zwischen den Korngarben beseitigt werden, und so sind schon frühmorgens die Leiterwagen, gezogen von struppigen aber satt zufriedenen Pferden mit nickenden Köpfen, hinausgerollt zu den Feldern; mit ihnen barfüßige, fröhlich lachende Kinder, singende Frauen mit Kopftüchern und ein paar neckende Bauernburschen, Harken und Sensen über der Schulter. Gesungen wurde auch auf den Feldern während der Arbeit - aller Armut zum Trotz. Denn bei allem Frohsinn, Weiden blieb ein wildes, armes Land.
Ungeachtet aller Armut fielen euch auch hinter Trallop noch frischgedeckte Dächer und neu gekalkte Wände auf. In die Dörfer war das Leben stark und prall und mächtig zurückgekehrt nach dem letzten Winter und nach Krieg und orkischer Zerstörungswut der letzten Jahre.
Dann habt ihr, der Reichsstraße II nach Süden folgend, die hier nicht mehr ganz so gut in Schuß ist, die muhenden Viehmassen und die bewirtschafteten Felder hinter euch gelassen. Von links und rechts drängen sich die Urwälder Weidens stellenweise bis an die Straße heran. Dann ein kleiner blauer Teich, ein kleines Geschwisterlein der gewaltigen Pandlaril auf einer sich plötzlich öffnenden Lichtung, über dem Mückenschwärme tanzen und über den ein lauer Wind hinwegstreicht. Stille. Ruhe. Einsamkeit der Waldwildnis.
Der Frühsommer ist auch in Weiden eine gar herrliche Zeit. Laue Abende, romantische Sonnenaufgänge, bunte Farben von Vogel- und Blumenwelt, sinnliche Gerüche, grüne Hügel. Und sogar die Menschen scheinen besser gelaunt als noch wenige Wochen zuvor. Ritter und ihre Knappen kreuzen euren Weg, umflattert von bunten Wimpeln der Herren, denen sie dienen; Händlerkarren poltern von Nord nach Süd und umgekehrt, und die ersteren überholt ihr zu Pferd allemal, tauscht auch den einen oder anderen Gruß aus; Barden, Musikanten und Gaukler sind unterwegs und tragen Musik und Gesang in die Welt; die Liebe steht allerorten in Flammen; ein Obsthain in voller Blüte, den eine ganze Reiterschar in blinkender Rüstung passiert und kurz darauf schon wieder verschwunden ist - ganz wie ein flüchtiger Tagtraum. Eine Eselskarawane von "Iaaaahhhh" und "ÄÄÄHIIÄÄÄHHIII", schwer beladen und geführt von einem schweigsamen Bärtigen. Am Horizont wieder eine der nicht enden wollenden Viehherden, die schwarz über die grünen Hügel ausschwärmt.
Ceridwen, Allacaya, Roban und Akilos sind in diesem Land unterwegs. Seit Tagen schon, und nur noch ein bis zwei Tage nach Baliho, zur Warenschau. Oder mag es andere Gründe geben, sie sie dorthin führen?
Tage zuvor Akilos und Ceridwen (nur Lir und Alrike )
Die Warenschau zu Baliho zu besuchen, ist durchaus naheliegend angesichts dieses sehr besonderen Ereignisses. Noch naheliegender, berücksichtigt man, welche Zeiten das ganze Land hinter sich hat und welcher Drang, dem Tod das Leben folgen zu lassen. Und doch ist der Weg weit, weit von Donnerbach nach Baliho. Um den halben Neunaugensee herum und durch die Sumpfgebiete, die dort im Westen den Weg unangenehm machen. Zweihundert Meilen nach Süden durch Weiden, selbst auf der Straße von Trallop nach Baliho noch ein Weg gut zwei Tagen. Aber lockte es nicht doch? Oder doch nicht so sehr? Wer weiß, ob ihr aufgebrochen wärt, hätte euch nicht Akilos` Ziehmutter zum Abendessen in ihrer Hütte abseits der großen Siedlung Donnerbach in den wirklich wilden Wäldern eingeladen. Eine Schwester Ceridwens, wie diese recht schnell in Erfahrung gebracht hatte. Hatte Akilos ihr zuerst davon erzählt, oder hatte sie selbst es herausgefunden? Die ältere Schwester des Wissens, die Akilos mit ihrer Tochter aufgezogen hatte, die ebenfalls eine Tochter Satuarias war (im Blautann im Zirkel Luzelins). Es war ein ganz normales Abendessen gewesen; in der kleinen, vollgestellten, aber gemütlichen Hütte, oder vielmehr draußen vor der Tür auf der kleinen Wiese am Feuer. Denn die Nacht war eine der ersten angenehm warmen gewesen, zumindest warm genug am Feuer. Bis Akilos` Ziehmutter, zögernd nur, von einer düsteren Ahnung sprach, die von dem Namen Baliho für sie ausging. Das zweite Gesicht der älteren Schwester des Wissens war stark und mächtig, wie Akilos wusste und Ceridwen ahnen mochte. Und die düstere Ahnung von Feuertod und schwarz am Horizont aufziehenden Wolken, Schwärmen von skelettierten Aaskrähen, die das Land entvölkern, von toten Menschen, die sich erheben und die Lebenden in großen Kesseln kochen, trieb euch irgendwann eisige Schauer über den Rücken, die euch näher ans Feuer rücken ließen und euch die nächsten Tage nur unruhig schlafen ließen. Wenn ihr ehrlich seid, war es eine Unruhe, die ihr schon zuvor verspürt hattet und die durch die düsteren Prophezeiungen der Ziehmutter und Schwester eigentlich nur noch verstärkt worden waren. Was nun war der Grund, der euch nach Baliho führt? Die Sehnsucht nach Leben, oder der Drang, einer Ahnung nachzugehen?
Wochen und Tage zuvor - Allacaya (nur Undine )
Ja, in der Tat, der frühe Sommer brach herrlich und wundervoll über das Land herein. Der Frohsinn der Menschen und ihre Lust am Leben waren nicht zu überhören und erst recht nicht zu übersehen. Und Allacaya wäre die Letzte gewesen, die dem nicht selbst nachgegeben hätte. Hätte nachgeben wollen, gemeinsam mit ihrem iama, mit dem sie in Liebe verbunden ward. Doch je weiter Frühling und Sommer voranschritten, desto gewisser wurde Allacaya darüber, welches Gefühl sie innerlich wirklich mit dem Sommer verband: "mhair thaintalwa nurdraza" in ihrer Sprache, und in der Sprache der Menschen: "der letzte Sommer". Eine Zeit, in der alles ein letztes Mal aufblüht, um sich dann für alle Zeiten aus der Welt zurückzuziehen. Allacaya war sich sicher, dass dies der letzte Sommer der Menschen sein würde. Noch einmal: Dieser Sommer würde der letzte Sommer sein, den die Menschen so erleben würden. Es würde keine weiteren dieser Art mehr geben. Nicht hier. Doch mit wem hatte sie darüber schon gesprochen? Mit ihrem iama? Konnte sie ihm dies sagen? Oder mit dem Magier der Menschen, Akilos, oder seiner neuen Bekannten, einer Menschenfrau mit Namen Ceridwen? Dann war da diese Warenschau der Menschen zu Baliho, zu der die beiden aufbrechen wollten. Und in Allacaya wuchs die Gewissheit, dass der letzte Sommer der Menschen mit dieser Stadt zu tun haben würde. Es war ein ganz und gar unbestimmtes Gefühl.
Wochen zuvor - Roban
Nachdem Roban und Ceridwen sich in den Wäldern Albernias kennengelernt hatten und es sie nach Donnerbach verschlagen hatte, verlor der kräftige Draufgänger seine neue Freundin ein wenig aus den Augen. Immer häufiger fand er sie in Begleitung eines so unglaublich gut aussehenden Magus, dass er sich schon gar nicht mehr wunderte, weshalb er sie aus den Augen verlor. Oder zumindest dachte er vielleicht, dass er sich aus diesem Grund nicht mehr wundern müsste. Irgendwann kam der Gedanke auf, die Warenschau zu Baliho zu besuchen, die nach den langen Jahren von Leid und Tod ein wenig Leben versprach. Roban mochte der Gedanke noch anderes versprechen ... Der Gedanke verdichtete sich zu einem Plan. Hatte sich Ceridwen irgendwie verändert? Wer vermag schon die Frauen zu lesen, oder gar die Frauen der Wildnis?
Noch jemand schloß sich ihnen an - eine Frau aus dem Volk der Waldelfen, in Begleitung eines herrlichen Blaufalken und eines großen Wolfshundes, der die ersten Tage auf vorsichtige Tuchfühlung mit Groll ging. Was sie nach Baliho führen sollte, konnte Roban nicht so genau so deuten, aber wer verstand schon die Frauen (siehe oben), oder erst recht die Frauen der Elfen?
So seid ihr auf dem Weg, schon hinter Trallop und auf dem besten Wege nach Baliho, nach schon fünf Reisetagen, die euch erst um den Neunaugensee herumgeführt haben, dann über bessere Feldwege bis nach Trallop, von wo an die Reichsstraße II etwas mehr Leben und Begegnungen in euren Alltag spült.