Fantasy-Kurzgeschichte: Coming Home (Deutsch)

  • Vor einiger Zeit habe ich mit dieser kleinen Geschichte an einem Fantasy-Kurzgeschichtenwettbewerb teilgenommen, jedoch keine Antwort bekommen. Das kann daran liegen, dass sie die maximal erlaubte Zeichenanzahl überschreitet oder dass sie einfach nicht gut genug war :D
    Da jedoch einiges an Arbeit drin steckt, möchte ich es mir nicht nehmen lassen, sie hier zu präsentieren und den kritischen Augen einer Fantasy-Gemeinde auszusetzen.
    Viel Spaß also beim lesen! (Den englischen Titel habe ich gewählt, weil mich die deutschsprachigen Alternativen nicht zufriedengestellt haben)


    Regen durchnässte seine Kapuze und in der Ferne hörte er das erste Donnergrollen eines aufziehenden Gewitters. Eine Böe erfasste seinen Mantel.
    Ein Blitz erhellte den Nachthimmel und schlug in einen Baum am Wegesrand ein. Der Baum ging in Flammen auf, fiel auf den Waldweg. Ethan setzte einen Fuß auf den Baum und hievte seinen Körper hinauf. Das Feuer wich zurück, er sprang wieder hinunter und setzte seinen Weg fort.
    Er dachte zurück an seinen alten Mentor. Das Auge ist mächtig, doch gefährlich. Bist du nicht mit dir im Reinen, verzerrt es dich. Gefühle sind austauschbar, mein Junge, du kannst dich ihnen nicht entziehen. Nutze sie. Lass nicht zu, dass sie dich nutzen.
    Und Ethan nutzte sie. Er unterdrückte nicht, er lenkte. Er log nicht, er manipulierte. Kein Mensch war sicher vor ihm. Am aller wenigsten er selbst. Dennoch war das Auge drauf und dran, ihn zu verzehren.
    Er bezweifelte den Rat seines ehemaligen Mentors ernsthaft, war er doch mit Abstand der Beste in dem was er tat. Was sollte ihm das Finden seiner Heimat da bringen? Die Leute hatten ihn damals mit Fackeln und Mistgabeln fortgejagt, als sie erkannten, was er war. Womöglich hatten die Bewohner das Dorf schon vor langer Zeit verlassen. Und selbst wenn er sich irrte: was dann? Ein Haus bauen, Felder bestellen und ein abgemagertes, ans Kreuz genageltes Gerippe anbeten? Lächerlich! Die Menschen hatten ja keine Ahnung, was ihnen mit der Verteufelung des Heidentums alles entging und doch: kam er nicht bald mit sich ins Reine und fand seine Heimat, würden Sehnsucht und Auge ihn verzehren…

    Amelie gab keinen Mucks von sich. Es war zwar nicht das erste Mal, aber anders. Keines der anderen Kinder jagte sie. Kein zorniger Mann wollte sie verprügeln, weil es schon wieder geschehen war.
    Als Papa heute zu früh von der Arbeit kam, hatte er sie angeschrien sie solle sich verstecken und erst wieder herauskommen, wenn es vorbei war. Sie wollte wissen, was es war, hatte aber zu viel Angst gehabt nachzusehen.
    Hier hockte sie nun und genoss den Geruch von Mamas Kleidern. Sie dufteten immer so herrlich, viel besser als die Kleider aller anderen Frauen, die Amelie kannte. In Mamas Kleiderschrank fühlte sie sich geborgen. So wie früher, als Mama sie noch umarmte, vor der Sache mir ihrem Brüderchen. Der Doktor hatte gesagt, sie könne sich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein, doch Mama schätzte sich nicht glücklich. Amelie zog vorsichtig zwei Kleider von der Stange und wickelte sich darin ein.
    Von draußen drang Lärm ins Haus. Vielleicht war alles ja nur ein Spiel und Papa wollte Mama wieder zum Lächeln bringen, indem er ihr zeigte, wie gut ihre Tochter sich verstecken konnte.
    Schon wieder Schreie von Draußen. Vielleicht suchte ja schon das ganze Dorf nach ihr, weil Papa allein sie nicht hatte finden können.
    Amelie vergrub ihr Gesicht und dachte an die schönen blonden Haare ihrer Mutter. Ihr selbst hatte der liebe Gott leider rotes Haar geschenkt, wie das von Papa. Da konnte man nichts machen.
    Lieber Gott, dachte sie, bitte mach die grauen Haare meiner Mama wieder so schön wie früher. Ich hoffe es geht meinem Brüderchen gut bei dir. Sag ihm, dass seine Schwester ihn vermisst. Bitte mach, dass Mama wieder lächelt.

    Reghar lächelte. Der Tag hatte gut angefangen und wurde von Stunde zu Stunde besser. Die Aktion verlief wie geplant und nachdem das bisschen Gegenwehr an Mistgabel haltenden Idioten aus dem Weg geräumt war, erlosch der Widerstand. Kluge Leute.
    „Gut so, meine Schäfchen! Erfüllt ihr den Wölfen jeden Wunsch, so sollt ihr den morgigen Tag noch erleben!“ Seine Männer lachten. Er streckte die Arme aus und rief: „Der Herr gibt es, der Herr nimmt es. Ihr gebt es, wir nehmen es. An solchen Tagen, fühle ich mich dem Allmächtigen immer am nächsten!“ Donnernde Zustimmung seiner Männer. „So teilt denn Brot und Wasser und Weib mit euren Nächsten. Wir können alles gut gebrauchen!“
    Permanenter Regenguss und ein bevorstehendes Gewitter hatten seinen Männern ganz schön die Laune verdorben, doch dieser Ort wies das ein oder andere hübsche, junge Ding auf und nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, untersagte er diesen auch seinen Leuten nicht. Gerade stand der Großteil der Männer Schlange für ein grauhaariges Weib mit überraschend hübschem Gesicht. Ihr Mann, irgendein Rotschopf, war damit natürlich überhaupt nicht einverstanden gewesen. Er war mit seiner Axt auf Reghar losgegangen, als dieser sich gerade vergnügen wollte. Natürlich war Mord, oder auch nur der Versuch, eine abgrundtiefe Sünde und so beschlossen seine Männer, ihn in den Brunnen zu werfen, wo er genügend Zeit haben würde, über seine Taten nachzudenken. Leider stellten sie zu spät fest, dass der Brunnen ausgetrocknet war und so fuhr der Mann ohne Chance auf Buße direkt zur Hölle.
    Reghar begann sich zu langweilen und beschloss, seinen Männern mal wieder ein wenig Unterhaltung abseits des Alltags zu gönnen. Er stand auf, ließ seine Fingerknochen knacken, zog seine zwei Beile und schritt auf eine Gruppe Dörfler zu, die Lagrar misstrauisch beäugte.
    „Was gibt’s Boss?“
    „Ich habe beschlossen, einem glücklichen Auserwählten die Chance zu geben, seine Ehre in einem fairen Kampf zu retten.“
    „Habt ihr das gehört, Jungs? Der Boss gibt uns mal wieder eine Kostprobe!“ Die Männer antworteten mit Jubelrufen.
    „Also ihr unglücklichen Seelen…“, wandte sich Reghar nun an die Dörfler, „Wer von euch ist mutig genug, sich mir entgegenzustellen? Ein Kampf. Mann gegen Mann. Eine Waffe eurer Wahl. Na wie klingt das?“
    Niemand rührte sich. Reghar bemerkte die verstohlenen Blicke auf seine Oberarme. „Oh lasst euch davon nicht einschüchtern. Die sind kaum mehr als Dekoration.“ Eine Lüge.
    Die meisten seiner Männer verließen ihre Schlangen, um dem Spektakel beizuwohnen. Frauen konnten sie jederzeit haben, doch ein Kampf vom Boss? Das war etwas Besonderes.
    „Nun kommt schon, ihr braven Leute. Meine Männer wollen unterhalten werden. Wenn ihr ihnen nichts zu bieten habt, müssen eben weiterhin eure Frauen herhalten.“
    „Herzloser Bastard!“
    Reghar machte den Sprecher, einen älteren, aber durchaus gut gebauten Mann, aus. Er fuhr mit der Hand über sein narbenüberwuchertes Gesicht.
    „Herzlos? Das ist ein wenig hochgegriffen, meinst du nicht? Ich wüsste nur zu gern, ob in deiner Brust ein Herz schlägt.“
    Die Augen des Mannes zeigten weder Furcht noch Verunsicherung. Alles was Reghar erkennen konnte, war Zorn. Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen und flüsterte: „Eines der jungen Dinger ist deine Tochter, nicht wahr?“
    „Ich wähle das Schwert.“
    „So soll es sein. Lagrar! Sorge dafür, dass unser Held bekommt, was ihm zusteht.“Reghar wusste noch nicht, was er mit ihm anstellen würde. Vielleicht würde er ihm die Wirbelsäule brechen, die Lunge rausreißen oder einfach die Scheiße aus ihm rausprügeln und ihn an seinem eigenen Blut ersticken lassen.
    „Der Herr möge meine Hände führen.“

    Alles war irgendwie komisch. Die Schreie nahmen zu und niemand kam auf die Idee, einfach mal im Haus zu suchen. Amelie fragte sich, ab wann man ein Versteckspiel eigentlich gewann. Sie beschloss, einfach davon auszugehen, dass das Spiel endete, wenn der Sucher die Nase voll hatte und sich auch endlich verstecken wollte. Die Rufe von draußen waren demnach also eine bedinglose Kapilation, so nannte man das.
    Nachdem sie nun also endlich ihr Können unter Beweis gestellt hatte, würden die anderen Kinder sich darum reißen, mit ihr spielen zu dürfen, hatte sie doch noch nie erlebt, dass sich das gesamte Dorf einer Suche anschloss und einstimmig kapilierte.
    Amelie öffnete die Türen des Kleiderschrankes, noch immer etwas verunsichert wegen der fast schon verzweifelten Rufe. Sie hätte es wirklich nicht so übertreiben und die Kapilation viel eher akzeptieren sollen.
    Mit zügigen Schritten durchquerte sie das Schlafzimmer und gelangte in die Küche, als das mulmige Gefühl zurückkehrte und überhandnahm. So viel Zeit und niemand kam auf die Idee, den Kleiderschrank zu öffnen? Nicht, dass ihnen das etwas genutzt hätte, so gut wie Amelie sich zwischen den Kleidern ihrer Mutter versteckt hatte, doch sie hatten nicht einmal dieses amateurhafte Versteck unter dem Bett überprüft.
    Sie fasste sich ein Herz. Sobald ich die Tür öffne, werden Mama und Papa mich erleichtert in den Arm nehmen und heut Abend lachen wir alle gemeinsam über ihre Schusseligkeit, dachte Amelie und schritt auf die Tür zu.

    Ethan begriff was vor sich ging, noch bevor der Wald sich lichtete und den Blick auf das Dorf freigab. Er vermutete, dass es sich um eine kleine Bande von Banditen handelte. Burschen der eher üblen Sorte. Einige Leichen lagen verstreut in den Zwischenräumen der Holzhütten. Im Zentrum des Dorfes vergnügten sich die Banditen mit ein paar unglückseligen Frauen, während ihre Männer zuschauen mussten.
    Der Anführer ist ein besonders großes Arschloch, dachte er, als dieser einen Mann zu einem offensichtlich ungleichen Kampf provozierte. Die anderen Banditen versammelten sich um die beiden und begannen etwas zu murmeln. Ethan konzentrierte sich und verstand schließlich ein Wort. Held.
    Held. Held. Held. Held. Während ihr Anführer, trotz fehlender Bewaffnung, begann, die Oberhand zu gewinnen, verstärkten sie ihren Chor. Held. Held. HELD. HELD. Der Anführer schlug seinen Gegner zu Boden. Für kurze Zeit verlor Ethan die Sicht auf beide, während der Chor seinen Höhepunkt erreichte. HELD! HELD! HELD! HELD! Der Anführer erhob sich wieder und hielt das Herz des anderen Mannes in seiner Hand. „Wer ist jetzt herzlos?“, rief er triumphierend. Seine Kumpane verfielen in schallendes Gelächter und der Kreis löste sich auf. Auf dem Boden lag der noch zuckende Dörfler.
    Das war’s dann also mit der langersehnten Heimkehr, dachte Ethan und wollte sich gerade abwenden, als eine gänzlich unerwartete, fast fröhliche Stimme ertönte: „Ich akzeptiere eure Kapilation!“

    Stille kehrte auf dem Dorfplatz ein. Diesmal begriff Amelie sofort, was es mit dem mulmigen Gefühl auf sich hatte. Niemand suchte irgendjemanden. Das gesamte Dorf war versammelt und nicht nur das: sie erkannte, dass einige der Leute nicht von hier waren. Allesamt trugen sie schmutzige Kleidung, vielen von ihnen wucherten ungepflegte Bärte im Gesicht. Ungefähr so stellte Amelie sich die Räuber vor, vor denen die Alten die Kinder immer warnten.
    Sie versuchte, sich hinter der halboffenen Tür zu verstecken.
    „Öhm was?“, sagte ein großer Mann mit riesigen Armen und vernarbtem Gesicht. „Zu wem gehört dieses Balg?“
    Niemand erwiderte etwas.
    „Also gut, dann quetsche ich die Antwort einzeln aus euch heraus. Ihr habt mich angelogen, als ihr sagtet, dass alle hier auf dem Platz versammelt sind. Lügen ist eine Sünde.“
    „Herrgott nochmal, es ist doch bloß ein Kind!“ Amelie erkannte den alten Mann, der gesprochen hatte. Zwei Bewohner ihres Dorfes stützten ihn und vor ihren Füßen lag zerbrochen sein Gehstock.
    „Ihr beantwortet meine Frage nicht, Bürgermeister. Zum wem gehört dieses Kind? Ich will Blut sehen.“
    Der Bürgermeister lachte, aber nicht in echt. Er lachte so, wie Amelies Mutter gelacht hatte, als man ihr sagte, sie könne sich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein.
    „Ihren Vater habt ihr in den Brunnen geschmissen.“
    In den Brunnen geschmissen?
    Dem großen Mann schien diese Antwort ganz und gar nicht zu gefallen, denn er fing an zu schreien: „Ich hasse es, belogen zu werden. In den Brunnen haben wir ihn geworfen? Dann ist die grauhaarige Schlampe also ihre Mutter, ja?“
    Stille.
    „Wie ihr wollt. Jungs! Stellt die Hurensöhne kalt und dann entzünden wir ein Freudenfeuer und veranstalten einen Leichenschmaus, wie die Welt es noch nicht gesehen hat!“

    Ethan sah sich das Ganze doch noch etwas länger an. Er schloss die Augen. Der Anführer ist ein Trottel. Uninteressant. Aber dieses… Als er seine Augen wieder öffnete, fixierte das Auge das Mädchen.
    Was willst du von ihr?, fragte Ethan.
    Bring sie mir, Sohn. Sie ist eine Tochter, antwortete es.

    Amelie verstand, aber begriff dennoch nicht so recht. Warum taten die Fremden allen weh? Nein. Das stimmte nicht ganz. Es tat weh, wenn die Kinder sie schubsten, oder sie an den Haaren zogen. Es tat weh, wenn Papa ihr eine Ohrfeige gab, weil es schon wieder geschehen war. Es tat weh, anders zu sein. Was hier geschah, ging darüber hinaus.
    Ein Kloß entstand in ihrem Hals, Tränen füllten ihre Augen, sie konnte nicht atmen. Ihr entfuhr ein Schluchzer, der jedoch das Geschrei der Dorfbewohner nicht übertönte. Ihre Beine gaben nach und sie klammerte sich an den Griff der Haustür. „Das wollte ich nicht“, sagte sie, „Ich wollte das nicht.“
    „Du verfluchte Hexe, dafür ist es jetzt zu spät!“, sagte jemand und Amelie erkannte Seb. Auch ihm flossen Tränen aus den Augen. „Sie wollten uns verschonen, uns am Leben lassen, hörst du? Aber jetzt ist alles vorbei, sie-“
    Plötzlich ragte ein Pfeil aus seinem Mund und er fiel hin.
    „Aufhören“, sagte sie.
    Der Kopf des Bürgermeisters rollte über den matschigen Boden.
    „Aufhören.“
    „Amelie!“
    Sie sah ihre nackte Mutter auf sie zu kriechen. „Mama, es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich wollte nie, dass diese komischen Dinge passieren.“
    „Tu es Amelie! Lass sie passieren! Rette dein Leben und finde eine neue Heimat, die gut zu dir ist.“
    Ihre Mama redete Unsinn. Es passieren lassen? Es durfte nicht passieren. Es war nicht normal. Aber Stimme und Augen ihrer Mama waren klarer als in all den vergangenen Jahren.
    Ein schmatzendes Geräusch. Ihre Mutter regte sich nicht mehr.
    „Aufhören!“, schrie Amelie. Schwärze überkam sie und das fremde Gefühl ergriff Besitz von ihr.

    Zufrieden beobachtete Reghar, wie seine Männer das taten, was sie am besten konnten. Er beschloss, ebenfalls an dem Fest teilzuhaben. Er ergriff seine Beile, parierte den erbärmlichen Angriff eines Dörflers und rammte es ihm in die Kehle. Reghar dankte dem Herrn für das ihm gegebene Talent und setzte seine Arbeit fort. Als nächstes würde er sich das Mädchen vornehmen.
    Er blickte in ihre Richtung und stellte fest, dass Lagrar sich der Sache bereits annahm. Mit einem Hieb beendete er das rührselige Zusammentreffen von Mutter und Tochter. Die Frau sackte in sich zusammen und der Blick des Mädchens leerte sich.
    „Lagrar! Das Mädchen gehört mir!“
    Gerade setzte Lagrar zu einer Antwort an, da traf ihn der Blitz.

    Das kann sie schon jetzt? Und ich dachte, ich wäre gut.
    Du bist gut, Ethan. Der Beste. Und sie wird einmal die Beste sein. Bring das Mädchen zu mir, es soll nicht zu deinem Schlechten sein.

    Reghar bemühte sich, seine Kinnlade zu schließen. Männer, die den Einschlag ebenfalls beobachtet hatten, näherten sich ihm vorsichtig. „Mausetot“, sagte einer.
    Reghar fand seine Sprache wieder: „Das kann nicht sein. Das Gewitter ist noch meilenweit entfernt.“
    Drei weitere Lichter blitzten auf und die Männer gingen zu Boden.
    „Was zum Teufel…“ Er erkannte eine Veränderung im Gesicht des Mädchens. Sie blickte nicht mehr ins Leere, sondern schlicht gar nicht mehr. Das Weiße in ihren Augen war Schwarz gewichen.
    „Rührt euch nicht vom Fleck!“, brüllte Reghar den Männern zu, die sich den Toten näherten. Er musste Ruhe bewahren. Was tat ein guter Soldat, der nicht an einen Feind herankam? „Bleibt auf Distanz und erschießt sie!“
    Seine Männer schienen mit dieser Entscheidung mehr als einverstanden. So gut wie alle Dorfbewohner lagen inzwischen im Dreck und so hatten sie genügend Zeit, sich zu beruhigen und ihre Bögen zu spannen. Welch teuflisches Werk hier auch immer vor sich geht, ich werde dem ein Ende bereiten, dachte Reghar. „Auf mein Kommando! Legt an! Zielt! Feu-“
    „Das reicht jetzt“, flüsterte eine Stimme. Reghar fuhr herum, doch niemand stand in seiner Nähe. Er blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und bemerkte, dass auch seine Männer sich verwirrt umsahen.
    In einer Gasse, etwas abseits des Platzes, machte er eine Gestalt aus, die sich durch den Nebel auf ihn zu bewegte. Nebel? Wann ist Nebel aufgekommen? Er sah an sich herab. Auch seine Beine waren inzwischen eingehüllt.
    Der Schemen bewegte sich weiter auf den Dorfplatz zu und bald nahm er Gestalt an. Ein Mann in einem knielangen, schwarzen Mantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Grelles Licht blitzte hinter ihm auf, gefolgt von einem Donnergrollen.
    „Was willst du?“, fragte Reghar, der Mühe hatte, seine Sprache wiederzufinden.
    „Das Mädchen. Gebt sie mir und ich ziehe meiner Wege.“
    Reghar schluckte. „Vergiss es. Verschwinde. Jetzt. Du bist mir nicht geheuer.“
    Der Mann seufzte. „In dem Fall muss ich euch alle töten.“
    Stille.
    „Wir sind mehr als hundert Mann, du bist allein. Wie-“
    Der Mann klatschte in die Handflächen, legte sie dann aufeinander und murmelte etwas. Im nächsten Moment fuhren seine Hände auseinander- nein, sie wurden auseinander gedrückt und zwischen ihnen erschien ein achtzackiger Stern, in dessen Mitte eine blaue Flamme züngelte. Reghar starrte in das Feuer und das Feuer starrte zurück.
    „Zweierlei: Erstens. Ich zähle nicht mehr als vierundneunzig, einschließlich eurer Toten. Zweitens. Ich bin keineswegs allein. Ich bin zu acht.“

    „Für euch jedoch, reichen zwei von mir völlig aus.“ Ethan ließ alle Zacken bis auf Rot und Schwarz verschwinden.
    „Hexerei! Tötet ihn, ihr nutzlosen Bastarde!“, schrie der Anführer. Der Bann war gebrochen, vierundneunzig Banditen wollten seinen Kopf. Das konnte spannend werden.
    Er duckte sich unter zwei Pfeilen weg und rannte auf die Meute zu. Die beiden letzten Zacken des Sterns lösten sich auf. Ethan spürte, wie die Kraft Besitz von ihm ergriff. Er blies zwei Männern allein mit seiner Handfläche den Kopf weg.
    Hinter ihm lief ein weiterer auf ihn zu. Ethan ging in die Hocke, sprang über den Hieb des Mannes hinweg, griff im Flug nach seinem Kopf und verdrehte ihn.
    Drei Banditen umstellten ihn. Ethan streckte seine Hände in die Luft, woraufhin drei Blitze auf seine Gegner herab fuhren. Himmel, machte das Spaß.
    Ein Pfeil schoss auf seinen Kopf zu. Keine Zeit zum Ausweichen.Er fing ihn mit der Hand ab, sprintete auf den Schützen zu und rammte den Pfeil tief in seinen Schädel. „Kopfschuss“, sagte er spöttisch.
    Dem nächsten Mann verpasste er einen Kinnhaken, durchtrennte die bloßgelegte Kehle und trat ihn dann gegen einen weiteren. Beide gingen zu Boden. Ethan setzte erneut zum Sprung an und landete mit beiden Füßen auf dem Kopf des noch lebenden Mannes. Er ärgerte sich schon jetzt über die Arbeit, die es machen würde, die Überreste des Schädels von seinen Schuhen zu bekommen.

    Reghar verzweifelte. Innerhalb kürzester Zeit hatte der Hurensohn mehr als die Hälfte seiner Männer abgeschlachtet. Es musste sich um einen Dämon aus den tiefsten Kreisen der Hölle handeln, davon war er überzeugt. Gesandt um ihn, Reghar, auf die Probe zu stellen. Bereits nach den ersten Sekunden des Kampfes, als das Biest Ligrim den Kopf zerschmetterte, verstand Reghar, dass er sich etwas einfallen lassen musste, um das Blatt doch noch zu wenden.
    Das Mädchen. Es will das Mädchen haben. Kein Mädchen, kein Dämon. Sein Blick fiel auf Pfeil und Bogen.

    Das fremde Gefühl ließ von Amelie ab. Langsam kam sie zu Sinnen und wünschte sich, dem wäre nicht so. Luft drang in ihre Brust ein. Aber nicht so, wie wenn man atmete. Sie hustete und spürte, dass ihre Brust schmerzte. Irgendwie mochte sie diese Schmerzen lieber als die anderen. Die, um die man keinen Verband legen konnte. Die, gegen die der Doktor nichts machen konnte.
    Mama. Alles, was sie an diesem Ort gehalten hatte, war nun fort. Ich will nach Hause.


    Der dreiundneunzigste Mann ging zu Boden und Ethan gestattete sich eine kleine Atempause. Er drehte sich herum. „Deine Jungs haben mich gerade ein paarmal fast umgebracht. Nicht schl-“ Oh Scheiße…


    Reghar hielt der kleinen Schlampe das Beil an die Kehle. „Gib auf! Verschwinde! Oder ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, ich bereite ihrem Leben ein Ende!“
    Der Schuss hatte perfekt gesessen. Keine tödliche Wunde, aber genug, um sie zu schwächen und im Notfall ausbluten zu lassen. Die Zeit spielte jetzt für ihn.

    Der Bastard hat mich übertrumpft, dachte Ethan.
    Du hast dich selbst übertrumpft. Einem Gegner dein Ziel preiszugeben ist närrisch, flüsterte das Auge.
    Verfluchte Scheiße.
    Gefühle sind austauschbar, Junge. Das war sie wieder, die Stimme seines alten Mentors
    Du musst ihn versetzen. Schick ihn in mein Reich und ich kümmere mich darum. Das Auge.
    Sei wahrhaftig, Junge. Sein Mentor.
    „Ich sag es nicht noch einmal, Dämon. Reghar der Hüne lässt sich nicht verarschen!“
    Was hatte er vorher gesagt? Bei Gott dem Allmächtigen? Konnte es wirklich sein? Das Ganze war so absurd, dass Ethan fast gelacht hätte. Er zog die Kapuze zurück und suchte Augenkontakt mit dem Mann. Lüge nicht, manipuliere.


    Das Gesicht des Dämons wirkte fast menschlich. Einige graue Stoppeln und Falten, aber noch kein alter Mann. Sein Augen hingegen… Reghar hatte noch nie eine solche Farbe gesehen. Bei Gott, solche Vollkommenheit.
    „Sag mir, Reghar der Hüne, bist du ein gläubiger Mensch?“
    „Was soll das?“, nuschelte er.
    „Ich möchte mich nur ein wenig mit dir unterhalten, Reghar.“
    „Verschwinde, Dämon. Ich töte das Mädchen.“
    „Du kannst es haben. Du kannst alles haben. Du hast mich überlistet. Sehr geschickt von dir, Reghar.“
    Reghar lächelte. „Ja… Ich weiß.“
    „Was wünscht du dir, Reghar? Gold? Macht?“
    Es kostete ihn ungemein viel Kraft, deutlich zu sprechen.
    „Ein Leben an der Seite des Herrn.“
    „Ich verstehe. Sehr ehrbar. Du bist seiner würdig. Sieh mir in die Augen, Reghar“
    Reghar gehorchte. Er fühlte sich schummrig, ließ das Beil fallen und konzentrierte sich ganz auf das Auge in der Handfläche des Mannes.

    Ethan hatte ihn soweit. Mit ausgestreckter Hand schritt aufReghar den Hünen zu, der bereits begann, sich aufzulösen.
    „Eine neue Heimat an der Seite deines Herrn. Wie gefällt dir das, Reghar?“
    „Gut…“, antwortete dieser glücksselig.
    „Das denke ich mir. Weißt du, auch ich habe eine Heimat, die ich liebe. Es ist dieser Ort hier. Er liegt mir sehr am Herzen.“
    „Was?“ Reghars Blick klärte sich und auf seinem Gesicht breite sich Entsetzen aus. „Wieso ist da ein Auge in deiner Hand?“
    Scheiße, fluchte Ethan innerlich. Was ging denn nun schief?
    Du Narr! Was soll das Gerede von deiner Heimat?, sagte das Auge.
    Ethan konzentrierte sich wieder auf sein Gegenüber.
    „Beruhige dich. Es ist fast geschafft. Lass den Herrn dich empfangen. Er erwartet dich bereits.“
    Das Lächeln kehrte zurück auf das Gesicht des Hünen. „Ja…“
    Die Versetzung war fast abgeschlossen und so erlaubte Ethan sich eine letzte spöttische Bemerkung: „Grüß ihn von mir. Den Herrn des Chaos.“
    Reghars Augen weiteten sich, er öffnete den Mund zu einem stummen Schrei, doch es war zu spät. Er verschwand vollends.
    Das war knapp, dachte Ethan.
    Er ließ Rot und Schwarz aus seinem Körper fließen. Am Ende seiner Kräfte angelangt, gab es nur noch eines zu tun.

    Amelie spürte eine wohlige Wärme in ihrer Brust. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Ein Mann kniete neben ihr und ließ seine Hände über ihren Körper gleiten, ohne ihn dabei zu berühren. Funken in einer Farbe, die Amelie noch nie zuvor gesehen hatte, strömten aus seinen Händen. Sie beschloss, dass es mehr als nur eine Farbe war. Es war ein vertrautes Gefühl, das nur ein Wort zuließ. „Oktarin.“

    „Ja. Das Auge hat recht mit dir. Du bist außergewöhnlich.“
    „Wer bist du?“
    „Ein Freund. Ich nehme dich mit und lehre dich, deine Gabe richtig einzusetzen.“ Das Mädchen nickte. „Wie lautet dein Name?“
    „Amelie.“
    „Amelie. Das ist ein sehr schöner Name. Tut mir Leid wegen deiner Heimat. Es war auch die meine, weißt du.“
    Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Das hier ist keine Heimat. War es nie.“ Sie zeigte auf die Funken an seiner Hand, „Das ist Heimat.“
    Ethans Augen weiteten sich. Es lag die ganze Zeit direkt vor ihm, doch er war schlicht zu blind gewesen.
    Sei wahrhaftig Junge.
    Das hatte der alte Mann also mit dem Finden seiner Heimat gemeint…
    „Ja“, sagte er schließlich, „Es ist Heimat. Und ich werde dich zu ihr führen.“
    „Was ist es?“
    „Magie.“

    Zitat von Robert Browning

    Herr Roland kam zum finstren Turm

    3 Mal editiert, zuletzt von Trip Trap (13. Januar 2016 um 12:39)

  • Gefällt mir gut.
    Wäre "Heimkehr" nicht auch als Titel geeignet gewesen?

    ich wäre ja perfekt, wenn ich nicht so bescheiden wäre....

  • Das freut mich :)
    Tatsächlich war Heimkehr sogar Zeitweise der Name der Geschichte, aber irgendwie gefiel mir Coming Home am Ende besser.

    Zitat von Robert Browning

    Herr Roland kam zum finstren Turm