Die Nacht hatte noch nicht ihre Mitte erreicht, als Rahjadis mir aufgeregt von ihrer Entdeckung in der Bibliothek berichtete. Sie hatte das Tagebuch von Borotin von Mersingen gefunden, einem Vorfahren Gernots, und die Einträge waren voller Andeutungen, die für uns zu Enthüllungen werden konnten. Sie fand darin etwas, was Eolandra beim Abendessen von Gernot erfragt hatte und zurückgewiesen worden war: Die sogenannten "Mersinger Meisterpläne", in denen die "Tränenlose" als eine Art Heilsbringerin Borons beschrieben wurde. Es war ein merkwürdiges Gefühl, diesen alten Text zu lesen, der eine so große Reichweite für meine Kirche - und gar für meinen Gott - für sich beanspruchte und doch so unbekannt und unter Geheimhaltung war.
Besonders bemerkenswert war ein Zettel, der zwischen den Seiten lag. Es handelte sich um eine Abschrift einer Prophezeiung aus dem Codex Corvinus, dem heiligen Buch der al’anfaner Boronkirche. Die Prophezeiung sprach von der "Erbin Nemekaths" und spannte einen mystischen Bogen über die Jahrhunderte hinweg: von Borons ältesten Namen unter den Echsen, die ihn als "V'Sar" fürchteten, bis zu seinem güldenländischen Namen "Visar" und schließlich zu "Boron", wie wir ihn heute kennen und verehren.
Diese Entdeckung war erhellend und zugleich verstörend. Die Zahlenmystik in der Prophezeiung schien eine tiefere Bedeutung zu tragen, sie kumulierte in der Eins als die Tränenlose, die Heilsbringerin. Eine genauere Interpretation blieb uns verborgen, da wir schlicht nicht genug darüber wussten. Dass Gernot von Mersingen tief in all dies verwickelt war, war klar – doch welche Rolle seine kinderraubenden Weisungen an den Golgaritenorden dabei spielten, das blieb ungewiss.
Am selben Abend fertigten wir mithilfe von Kerzen aus der Hauskapelle und einem Zauber von Donna Rahjadis' zwei Zweitschlüssel von zweier von Herdans Schlüsseln an: Einen zweiten Zellenschlüssel und einen Schlüssel, dessen Türe wir nicht kennen. Während Rahjadis und ich noch überlegten, wie es uns gelingen könnte, den Schlüsselbund Herdan heimlich zuzustecken, handelte Alondro bereits. "Ich bringe das in Ordnung", hatte er beiläufig gesagt und war verschwunden. Wie er es bewerkstelligte, weiß ich bis heute nicht. Ich stelle mir vor, dass er den Schlüssel Herdan einfach in die Hand gedrückt und ihm gesagt hatte: "Hier, das hast du verloren." und sich weider von dannen machte, ehe der Golgarit Fragen stellen konnte.
In der Hauskapelle der Burg suchte ich danach einen Moment der Ruhe. Ich kniete mich nieder, vertraute der Stille mein Abendgebet an und bat Boron und die Heilige Noiona um Geduld. Mit dem versöhnlichen Gefühl, dass die Antworten, nach denen sich mein Geist sehnte, sanft und unaufdringlich wie fallende Daunenfedern zu uns gelangen mögen, beschloss ich meine Andacht.
Am nächsten Morgen trennten sich unsere Wege zunächst. Eolandra bot Rahjadis und Alondro eine Burgführung an, während Paske sich den morgendlichen Waffenübungen der Golgariten anschloss. Ich kehrte in die Bibliothek zurück, um die Lex Boronia zu studieren. Die Aufzeichnungen des Ordens konnten weitere Hinweise auf die Bedeutung der "Tränenlosen" enthalten. Doch bis zum Mittagessen barg die golgaritische Ordensregel ihre Geheimnisse vor mir.
Zur Mittagszeit erhielten wir die versprochene Audienz bei Gernot von Mersingen. Sein Blick war wachsam und unnachgiebig, während er uns von seinem Schreibtisch aus musterte und sich nicht rührte. Ich entschloss mich, direkt zur Sache zu kommen.
"Euer Erlaucht", begann ich mit fester Stimme, "ich habe Euch bereits in meinem Brief meinen Unmut über den Kinderraub dargelegt, gibt es doch eine größere Bedrohung, derweil Ihr den Orden mit fragwürdigen Sonderaufgaben schwächt. Während Kinder aus ihren Familien gerissen werden, steht Lucardus mit seiner Armee aus Untoten vor dem Heiligen Tal und verfolgt seine findseren Ziele. Untote, Nekromanten und Söldnerbanden tyrannisieren Eure Untertanen. Wie kann das gerechtfertigt sein?“
Gernots Miene verhärtete sich. "Mehr steht auf dem Spiel als die Rabenmark oder der Zwist der zwei Kirchen Borons.", sagte er. "Ihr müsst mir vertrauen."
Doch mein Vertrauen hatte er bereits verspielt. Erst als wir ihm offenbarten, was wir bereits aus Borotins Tagebuch und der Prophezeiung aus dem Codex Corvinus wussten, öffnete er sich ein wenig. Wir sprachen von der Tränenlosen, von ihrer Rolle als Opfer im Namen Borons. Sein Blick wurde schärfer, als wir ihn zur Rede stellten. "Was geschieht, wenn die Tränenlose stirbt?", fragte ich. "Warum unterstützt Ihr ein solches Opfer eines unschuldigen Menschen, obwohl Ihr eben diesen Ordens anführt, der den al’anfaner Ritus bekämpft? Jenen Ritus, der ein Menschenopfer als die höchste Gabe an Boron ansieht?"
Gernot atmete tief ein und zitierte die Prophezeihung aus Borotins Tagebuch Wort für Wort. Dann endet er: "Die Tränenlose muss im Kampf der Götter sterben, um ihren Zweck zu erfüllen. Seit Generationen hat die Familie Mersingen darauf hingearbeitet, die Tränenlose zu zeugen. Jetzt wollen wir sie adoptieren. Das Orakel der Nacht prophezeite dies. Sowohl Lucardus von Kémet als auch Borondria waren Zeugen dessen.“
Ehe er weiter sprechen konnte, huschte ein Schatten durch die Tür. Es war Saltarez, der strenge Justiziar des Ordens. Er hatte Gernots Worte gehört und seine Wut war unübersehbar. "Damit seid Ihr zu weit gegangen, Gernot! Ihr seid der Führung der Rabenmark nicht mehr würdig!", rief er laut. "Ihr habt diesen Fremden bereits zu viel gesagt. Heute Abend werde ich vor Gericht klären lassen, ob Ihr noch das Vertrauen des Ordens verdient!"
Saltarez' Anklage hallte durch den Raum, noch nachdem er auf dem Absatz kehrt gemacht und wieder aus dem Raum gestürmt war. Gernot blieb stumm, sein Gesicht verschlossen, doch die Anspannung war deutlich zu spüren. Der Abend versprach, alles zu verändern.
Das abrupte und unerfreuliche Ende dieser vielversprechenden Audienz dultete ich jedoch noch nicht. Ich schlug einen sanften Tonfall gegenüber dem Markgrafen an und bat meine Gefährten mit Blicken, sich im Hintergrund zu halten. So brachte ich Gernot dazu, sich mir ein wenig zu öffnen. Seit jungen Jahren sei er bereits der Geheimnisträger der Familie, da er der Erstgeborene war. Diese wichtige Rolle belastet ihn. Erleichterung findet er nur darin, sich Borondria anzuvertrauen. In ihr hatte er eine Schwester gefunden, die ihm in seinen Geheimnissen näher stand als seine leiblichen Geschwister. Seine Haltung gegenüber den Al'Anfanern gab er mir leider nicht preis.