Dort war er, der Eingang zum Turm. Vor der schweren Holztür stand ein Golgarit mit verschränkten Armen, seine Haltung straff und sein Blick streng. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass er seine Aufgabe ernst nahm.
Ich hatte mich entschlossen, die al’anfanischen Geweihten zu besuchen. Die Vermittlung zwischen den Kulten war ein heiliger Bestandteil meiner Ordensregel, eine Pflicht, der ich nicht ausweichen konnte - nicht wollte. Selbst unter dem Gastrecht eines Hausherren wie Gernot von Mersingen, mit all seiner Autorität, konnte er mich nicht davon abhalten, meine Verantwortung wahrzunehmen.
Doch ich musste den Weg zu den Gefangenen behutsam erfragen, denn ihnen schlug seitens der Golgariten blankes Misstrauen bis hin zu Abscheu entgegen. Es hieß, sie seien in einem der Türme der Burg eingesperrt. Die Vorstellung, dass Diener Borons - mögen ihre Riten und einige ihrer Überzeugungen auch anders sein - wie gefährliche Verbrecher behandelt wurden, widersprach allem, wofür mein Orden stand. Auch Donna Rahjadis brodelte innerlich, wie sie beim Abendessen hat durchscheinen lassen.
Ich trat mit einem Lächeln auf den Golgariten zu. "Seid gegrüßt", begann ich, „Ihr verrichtet hier also Euren Dienst? Und bewacht die... Al'Anfaner?" Er sah mich unverwandt an, ohne sich zu rühren. "Jawohl. Keiner darf hinein", erklärte er knapp. Sein ernster Ton ließ ihn jünger wirken, als er aussah. Und er ließ keinen Raum für Diskussionen, doch ich war nicht allein. Rahjadis trat vor, ihre Haltung selbstbewusst, und übernahm das Gespräch. "Und wenn ich Euch verspreche, dass unsere Absichten rein und ehrenvoll sind, mein Freund?", fragte sie mit einem leichten Lächeln, das jeden anderen wohl um den Finger gewickelt hätte. Und setzte eine Zauberformel hinzu, die ich erkannte. Ich hörte sie sie nicht das erste Mal sprechen. Der Zauber hatte uns schon bei unserer Einreise in Altzoll gute Dienste erwiesen. Mit seiner Wirkung wollte sie den Golgariten im buchstäblichen Wortsinn bezaubern. Doch... Der Mann, der sich als Herdan von Dornhart vorstellte, blieb unbeeindruckt. Seine Wachsamkeit war bewundernswert, aber in diesem Moment hinderte sie uns daran, das Richtige zu tun.
Also betete ich still. Ich wusste, dass ich in Seinem Willen handelte, wenn ich versuchte, hiermit eine Brücke zwischen Seinen beiden Kirchen zu bauen. Und mit dieser Gewissheit in meinem Herzen und Borons Kraft, die durch meine Seele strömte, sprach ich in meinem Geist die Worte, die Herdan sanft in den Schlaf, in Borons Arme gleiten ließen. Seine strenge Haltung löste sich, seine Augen fielen zu, und er sackte an die Wand gelehnt zusammen, an der er begann, herabzurutschen... wo ihn Paske mit einem beherzten Griff vor dem Sturz auf den harten Steinboden bewahrte.
"Nun", murmelte Rahjadis trocken, "das hat ja besser funktioniert als mein Ansatz."
Wir erleichterten Herdan um seinen Schlüsselbund und huschten die gewundene Treppe hinauf, so leise und so schnell, wie es nur möglich war. Das Gefühl, das Richtige zu tun, trieb mich voran. Und: Ich wusste, dass uns nur wenig Zeit blieb. Am Ende der Treppe fanden wir vier Zellen. Drei waren leer, doch hinter den schweren Eisenstäben der vierten regte sich etwas. Als wir näher kamen, erkannte ich vier Personen: eine Priesterin, einen Priester und zwei Rabengardisten, die ihre Leibwachen sein mussten. Ihre Blicke waren misstrauisch, als wir die Tür öffneten, doch ich trat ruhig ein und stellte mich vor. "Ich bin Schwester Noiona, Dienerin Borons und der Heiligen Noiona von Selem. Ich bin hier, um Euch zu helfen."
Die Priesterin musterte mich lange, dann nickte sie. "Ich bin Rimiona Delazar. Dies ist mein Bruder Methandor, und dies sind unsere Wachen." Sie sprach ruhig, aber ich hörte die Erschöpfung in ihrer Stimme. "Warum tut Ihr das? Wir sind hier, weil man uns als Häretiker betrachtet." - "Ich diene Boron, genau wie Ihr", erklärte ich, "und es ist meine heilige Pflicht, Frieden und Verständigung zwischen unseren Kirchen zu fördern. Dafür will ich einstehen!"
Doch die Jüngerin des Raben Rimiona schöpfte keinen Mut aus meiner Entschlossenheit. "Wir haben mit diesem Leben bereits abgeschlossen. Der Justiziar will uns auf den Scheiterhaufen bringen."
Ich hob beschwichtigend meine Hände: "Das werde ich zu verhindern wissen."
"Könnt Ihr das?", fragte Methandor skeptisch.
"Mit Borons Willen, ja", entgegnete ich, meine Stimme fester als ich mich fühlte. "Und ich werde alles für Euch in die Waagschale werfen. Lasst die Hoffnung noch nicht fahren. Ihr habt in mir eine Fürsprecherin."
Ein Moment der Stille verging, bevor Rimiona schließlich nickte. "Wir vertrauen Euch, Schwester. Doch beeilt Euch. Die Zeit ist gegen uns."
Dies war unser Stichwort, denn ich hatte das untrügliche Gefühl, dass Herdans Erwachen nahte. Ich versprach ihnen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, und verließ die Zelle zugleich mit leichtem und schwerem Herzen: leicht, weil ich für meine Werte und die Werte meines Ordens einstehen konnte. Schwer, weil ich mir hier in einer weiteren Sache mehr Gegner als Verbündete machen würde.