Das Abendessen hatte kaum begonnen, als die Spannungen zwischen den Anwesenden spürbar wurden. Unterschiedliche Meinungen über die Führung und die Zukunft des Golgariten-Ordens schwelten nicht unter der Oberfläche - nein, sie brodelten hoch.
Saltarez, der Schwingenführer, machte keinen Hehl aus seiner Meinung. "Der Orden ist zu weltlich geworden", erklärte er mit einer Stimme, die vor Verachtung triefte. Seine Haltung war die eines Mannes, der keinen Widerspruch duldete. Ich konnte sehen, wie sich einige Anwesende bei seinen Worten unbehaglich bewegten.
Baranoir, der Justiziar, sprach leise mit Eolandra, der Schwingenträgerin. Ich verstand seine Worte nicht, doch Rahjadis, die aufmerksam lauschte, wandte sich direkt an ihn. „Ihr wollt die al’anfaner Priester jagen?", fragte sie mit erhobener, aber beherrschter Stimme, die mehr als nur einen Hauch von Herausforderung in sich trug. Baranoir verzog das Gesicht. "Lucardus war wenigstens durchsetzungsfähig und nicht so konfliktscheu wie Borondria", entgegnete er mit einem bitteren Unterton und einem Seitenblick auf seine Hochmeisterin ein paar Plätze weiter.
Eolandra warf ihm einen scharfen Blick zu und antwortete ironisch: "Und mit den gefangenen Al’Anfanern in der Burg würdet Ihr am liebsten anfangen, nicht wahr?" Ihre Stimme war ein Hauch zu laut, und mehrere Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Baranoirs Gesicht blieb unbewegt, doch seine Augen blitzten vor Missfallen.
Währenddessen nutzte Rahjadis den Moment, um nach Lysandra von Lyckmoor zu fragen. Der Name ließ Gernot verstummen und auch diejenigen, die in seiner Nähe saßen, fielen ein in die angespannte Stille. Der Markgraf schüttelte den Kopf. "Das bespreche ich später, in kleinerem Kreis." Ich jubelte innerlich. Das klang nach Antworten! Endlich eine Hoffnung.
Ich entschied mich, mich aus den hitzigen Gesprächen auszuklinken und wandte mich stattdessen meiner Ordensschwester Nanna zu, die neben mir saß. Obwohl uns so viel verband fiel es mir schwer, ein gewisses Misstrauen ihr gegenüber abzulegen. "Wie geht es den Kindern? Wie geht es mit ihren Behandlungen voran?" fragte ich so freundlich wie möglich. Mich überraschte, dass Nanna erfreut über die Frage schien. "Die Familie Mersingen gibt den Kindern ein Heim", erklärte sie mit Nachdruck. Es war, als würde sie die traviagefällige Aufnahme von Waisenkindern loben. "Aber die Kinder wurden ihren Familien genommen. Wisst Ihr das nicht?", entgegnete ich unsanft. Ihre Haltung versteifte sich, und ein harter Zug legte sich um ihre Augen. "Ihr solltet darüber schweigen", murmelte sie und wandte sich ihrem Teller zu. Dieses Gespräch war für sie offenkundig beendet.
Da erhob Eolandra ihre Stimme erneut, sie war scharf wie eine Klinge. "Wie verfahrt Ihr mit der Tränenlosen, Markgraf?" fragte sie, und diesmal war der Biss in ihrer Frage nicht zu überhören. Der Ausdruck "Tränenlose" ließ mich aufhorchen. Dieses Wort war mir völlig unvertraut. Gernot blieb äußerlich gelassen. "Ich als Geheimnisträger des Hauses Mersingen habe selbstverständlich weitreichende Pläne", begann er mit einer Stimme, die gleichzeitig beruhigen und dominieren wollte. Doch seine Worte waren nichtssagend, ein Nebel aus Floskeln. Er endete mit einem kühlen: "Das bespreche ich nicht hier und jetzt." Es war eine klare Zurückweisung, und Eolandra hakte nicht weiter nach. Ich ebensowenig. Immerhin hatte er uns einige Antworten versprochen, das wollte ich nicht gefährden. Und er hatte sich als "Geheimnisträger" seines Hauses bezeichnet. Bishdalia hatte diese Bezeichnung ebenfalls für Gernot verwendet, doch ich hatte sie damals nicht weiter hinterfragt.
Das Abendessen endete in angespannter Stille. Als wir in unser Zimmer zurückkehrten, besprachen wir unsere Erfahrungen und Erkenntnisse.
"Eolandra und Baranoir scheinen sich zu vertrauen, auch wenn sie in der Frage der Al'Anfaner 'Häresie', wie sie die Kirche nennen, nicht einer Meinung sind", stellte Rahjadis fest. "Beide scheinen Gernots Absichten zu misstrauen. Eolandra unterstellt ihm sogar, die Rabenmark behalten zu wollen, anstatt sie dem Golgariten-Orden zu übergeben." - "Das wäre ein offener Affront", murmelte ich nachdenklich.
"Haben wir heute Abend alle Fraktionen des Ordens gehört?", fragte Alondro, die Stirn gerunzelt. Und überraschte mich damit, denn ich hatte den Eindruck bekommen, dass er sich ausschließlich mit einem kleinen Hund beschäftigt hatte, der unter den Tischen herumgestreunt war. Keiner von uns konnte sicher sagen, ob das der Fall war. Doch eines war klar: Die Golgariten waren zerrissen. Und die Spannungen innerhalb des Ordens waren nicht weniger gefährlich als die Bedrohung von außen - denn in diesem Zustand war der Orden nicht handlungsfähig, sondern gelähmt und er schwächte sich selbst.