Rahjadis war in ihrem Element. Mit ihrem Charme und ihrer beeindruckenden Fähigkeit, selbst die verschwiegensten und die schüchternsten unter den jungen Bediensteten zum Reden zu bringen, sammelte sie Informationen über die Geschehnisse in der Burg. Sie berichtete mir später, dass sie erfahren hatte, dass Großmeisterin Borondria und Lucardus von Kémet einst eng befreundet gewesen seien. Ein Umstand, der mir fast den Atem nahm - konnte das wirklich wahr sein? Ich war immer davon ausgegangen, dass Borondria, weil sie nach Lurcardus' Fall seine Nachfolge angetreten hatte, wenig mit ihm zu tun gehabt hatte. Noch brisanter war allerdings das Gerücht, dass sie immer noch in Briefkontakt mit ihm stehen sollte. Ein Skandal ohnegleichen, wenn die Anführerin der Golgariten mit ihrem schlimmsten Feind korrespondierte. Eine der vier Fraktionen im Orden beschuldigte Borondria deswegen offen, was die Spannungen innerhalb der Golgariten nur verschärfte.
Während ich noch über diese Nachricht nachdachte, trat Alondro mit einem seltsamen Glitzern in den Augen zu mir. "Hier", sagte er schlicht und legte eine feine Silberkette mit einer daran befestigten Rabenfeder in meine Hand. Das Schmuckstück war schlicht, aber wunderschön gearbeitet. Sofort wurde mir klar, woher es stammte.
"Du hast das von Schwester Nanna gestohlen, nicht wahr?", fragte ich scharf. Alondro zuckte mit den Schultern und grinste herausfordernd. Das reichte an Deutlichkeit, ich hatte Recht. "Du kannst ihr doch nicht einfach ihre Kette nehmen!" Sein Blick blieb unbekümmert. "Doch, konnte ich", entgegnete er mir schlicht. Und stur. Ich hielt kurz inne, dann reichte ich ihm die Kette zurück. "Bring es ihr zurück. Und sei froh, wenn Boron dir deinen Leichtsinn verzeiht." Er sagte nichts, doch er nahm die Kette wieder an sich. Doch ich fürchte, dass meine Worte ihn kalt ließen und ich denke nicht, dass Schwester Nanna ihre Kette wieder finden wird.
Am Abend wurden wir zu einem großen Essen geladen. Der Saal war beeindruckend - mehrere lange, hölzerne Tafeln beherrschten den Raum. Sie waren in Form eines U aufgestellt. Rahjadis schlug zischelnd vor, dass wir uns strategisch an unterschiedliche Plätze an der Tafel setzten, um möglichst viele Gespräche mitzubekommen. An der Stirnseite saßen die wichtigsten Persönlichkeiten: Markgraf Gernot von Mersingen, die Großmeisterin Borondria, und drei weitere, die mir gar nicht bekannt waren. Ich mutmaßte, dass sie in erster Linie zum Orden und nicht zum Haus Mersingen gehörten.
Der erste war ein adlernasiger Mann, dessen Haltung aristokratische Selbstsicherheit ausstrahlte. Im Laufe des Tischgesprächs erfuhr ich, dass er Schwingenführer Saltarez Bahram von Jurios sei, der Anführer einer Einheit von elf Golgariten. Neben ihm saß ein hagerer und sehniger Mann, dessen strenges Gesicht keine Emotion verriet - Justiziar und oberster Schwingenträger Baranoir, der oberste Richter des Ordens. Die letzte war eine stämmige Frau mit einem Lockenkopf, Schwingenträgerin Eolandra Gerbling, die ebenso entschlossen wie wachsam wirkte.
Bishdalias Fehlen war unübersehbar. Niemand sprach es laut aus, doch ich sah die Blicke, die sich zwischen den Anwesenden austauschten. Man war auf Burg Mersingen offenbar davon ausgegangen, dass die Etilianerin mit uns ankommen würde, während wir dachten, die Schwester des Markgrafen sei bereits in Elurions Begleitung eingetroffen. Etwas war nicht in Ordnung, doch niemand wagte, uns zu beschuldigen.
Markgraf Gernot war der erste, der das Schweigen brach. Er richtete sich auf und sprach mit fester Stimme: „Ihr seid meine Gäste. Sprecht frei! Dies ist mein Heim, hier wohne ich!“ Doch die stämmige Frau an der Stirnseite der Tafel, Eolandra, sah ihn irritiert von der Seite an. Ihre Miene ließ vermuten, dass sie diese Worte nicht so frei auslegen würde, wie er sie sagte.
Rahjadis begann schließlich zu erzählen. Sie schilderte, was wir bei Al’Zul gesehen hatten, und was uns bei Lucardus’ Heer begegnet war. Sie sprach ruhig und sachlich, doch die Spannung im Raum war spürbar. Als sie den Namen Lucardus' aussprach, sprang Saltarez plötzlich auf. "Jetzt können wir ihn ein für allemal erledigen!", rief er und schlug mit der Faust in seine Hand. Seine Stimme war durchdrungen von einer fast fanatischen Entschlossenheit.
Doch Markgraf Gernot hob beschwichtigend die Hand. "Besonnenheit, Schwingenführer! Wir müssen zuerst die gesamte Rabenmark sichern, bevor wir uns diesem Problem zuwenden."
Da ertönte Alondros Stimme, klar und mutig und für mich vollkommen unerwartet: "Es sind ja auch gerade einige Kindesentführer unterwegs!"
Ein Murmeln ging durch den Raum, und Gernots Blick wurde eiskalt. Seine Augen bohrten sich in Alondro, als würde er ihn mit purer Willenskraft zum Schweigen bringen wollen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich musste zugeben, dass ich Alondros Mut verwünschte. Ob es klug gewesen war, so offen zu sprechen, würde sich zeigen.