Schon am Torhaus erwartete uns ein erster Widerstand. Die Wachleute schüttelten die Köpfe und ließen uns keinen Schritt weiter, bis wir schließlich unsere Auszeichnungen hervorholten – die Kaiser-Raul-Schwerter in Silber. Erst als sie die Insignien erkannten, die uns ihr Lohn- und Brotherr aus eigener Hand verliehen hatte, ließen sie uns ein. „Nur Mitglieder des Ordens des Heiligen Golgari dürfen in die Burg,“ hatte einer der Wachen gemurmelt, bevor er uns mürrisch vorbei winkte.
Die Burg zeigte sich von innen genauso uneinnehmbar, wie sie von außen gewirkt hatte. Dicke Mauern und enge Durchgänge – dies war keine Festung, die für ihre Bewohner gemacht war, sondern für Verteidigung und Kampf. Gleich hinter dem Eingangstor betraten wir einen Innenhof, auf dem Golgariten unter der scharfen Aufsicht einer Frau mit grimmigem Blick übten. Die Klingen klirrten aufeinander, ansonsten waren kaum Worte zu hören. Damit erwiesen sie unserem Herrn die Ehre. Unbehelligt betraten wir eines der größeren Gebäude. Kaum waren wir einmal herein, wurden wir nicht mehr beachtet. So hielten wir die erste Magd an, die uns über den Weg lief, und fragten nach einem Zimmer. Alondro schielte bereits den Flur entlang, ich wähnte, dass er hoffte, die Küche auszuspähen. Und prompt murmelte er etwas davon, dass er sich auf die Suche nach Essen machen würde. Die Magd indes, ein junges Ding, wies uns ein einziges, spärlich eingerichtetes Zimmer, das wir zu viert teilen sollten. Kurz darauf stieß Alondro zu uns – in seinen Händen hielt er dampfende Pasteten. Das würde reichen.
Später, als wir uns ein wenig ausgeruht hatten, sah ich einen jungen Pagen im Gang entlanghasten und hielt ihn an. „Ich möchte dem Markgrafen ausrichten lassen, dass wir gerne heute Abend mit ihm speisen würden“, sagte ich höflich. Der Junge nickte und erzählte mir, dass wir dann in Gesellschaft des Markgrafen, seinem engsten Gefolge und der Großmeisterin des Golgariten-Ordens, Borondria, sein würden. Ich nickte zufrieden. Je mehr wissende Personen zugegen waren, desto eher ließen sich vielleicht Antworten auf unsere Fragen finden.
„Oh, und...“ Der Junge hielt inne und senkte die Stimme. „Ihr dürft Euch in der Burg frei bewegen, aber... ihr dürft nicht in den Westflügel.“ Die seltsame Warnung machte mich stutzig, doch bevor ich mehr fragen konnte, lief der Page bereits davon. Sobald Alondro davon hörte, weckte der Westflügel seine ganze Aufmerksamkeit. Es war ihm anzusehen, dass er nicht warten würde, um diesen Ort zu erkunden. Schon bevor ich mich auf die Suche nach der Bibliothek machte, wusste ich, dass er das Verbot umgehend ignorieren würde.
In der Bibliothek angekommen, war ich beeindruckt von den Werken, die hier so prominent ausgestellt waren. Neben der Lex Boronia, den heiligen Ordensregeln der Golgariten, und einer Ausgabe des Praioshammers - einer gekürzten Version des berühmt-berüchtigten, da ziemlich fanatischen Echsenhammers aus der Zeit der Priesterkaiser der Praios-Kirche-, stach mir das Schwarze Buch, das heilige Buch meiner Kirche, ins Auge. Das Buch war vornehm verziert, mit silbernen Schnallen, die in Form von Federn den Einband umschlossen, und sehr gut gepflegt. Eine wahre Freude für mich als Buchliebhaberin. Doch das Überraschendste war eine Ausgabe des Codex Corvinus – der heiligen Schrift der al’anfaner Boronkirche. War das Exemplar den Geweihten aus Al'Anfa, die auf Burg Mersingen gebracht worden waren, abgenommen worden? Doch warum hätte man es in die Bibliothek gebracht, wo es hingehörte und gefunden werden konnte, wenn man die Geweihten aus dem Süden als Ketzer diffamierte?
Währenddessen genoss Rahjadis ein Bad, das sie sich samt einer umsichtigen Zofe organisiert hatte. Die junge Frau war gesprächig und plauderte allerlei interessante Dinge aus, die sie im Dienst aufgeschnappt hatte. Vor allem erfuhr Rahjadis von Streitigkeiten innerhalb des Golgariten-Ordens – vier verschiedene Strömungen soll es geben, die alle um Einfluss im Orden rangen. Es erinnerte mich an meine Vision der kämpfenden Raben: Die Golgariten lagen offenbar in einem tiefen Zwist.
Als Alondro zurückkehrte, glänzten seine Augen vor Stolz. Offenbar hatte er es geschafft, über die Außenmauer in den Westflügel zu gelangen. „Ich habe die Kinder gefunden!“ platzte er heraus. Mein Herz schlug schneller. Endlich ein erster Erfolg.
„Eine Noionitin, Schwester Nanna, kümmert sich um sie“, erklärte Alondro und maß mich mit einem langen Blick. Ich zuckte nur mit den Schultern und forderte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Weiterreden auf. Ihr Name sagte mir nichts, denn natürlich kannte ich nicht alle meine Ordensschwestern und -brüder auf diesem großen Kontinent. „Sie scheint irgendwelche Berichte zu führen.“ Die Berichte, so sagte er, begannen jeweils mit dem selben Satz, sagte er. Doch er konnte nicht lesen. Glücklicherweise hatte Phex ihm ein wenig Glück geschenkt, und er hatte kurzerhand zwei Berichte mitgenommen. Aufgeregt griff ich nach den Blättern, die er mir hinstreckte, und als ich las, wurde meine Aufregung nicht kleiner. Es waren Patientenberichte von Nelly und einem Mädchen namens Grimma. ‚Im Gewölbe‘ stand dort. Wenig mehr. Die Berichte waren offenbar noch unvollständig. "Das waren die einzigen, die offen auf dem Tisch lagen. Die anderen waren ordentlich beiseite gelegt.", ergänzte der Jäger. Auf anderen Berichten hatte mehr gestanden, meinte er. Ich vermutete, dass Schwester Nanna dort Symptome und Behandlungen von seelischen Leiden vermerkt hatte. Prompt drückte er mir einen weiteren Bogen Pergament in die Hand. Es war tatsächlich so. Und am Ende war der Vermerk zu lesen: ‚Darf in der Burg arbeiten‘. Auf den Berichten von Nelly und Grimma fehlte auch dies.
Ein kaltes Gefühl durchfuhr mich. Was plante der Orden mit den beiden Mädchen, und was geschah in diesem Gewölbe, von dem in den Berichten die Rede war?