Unsere Schritte folgten der alten Reichsstraße in Richtung Deislar. Dies sollte das nächste Dorf auf dem Weg zum Erdheiligtum Al'Zul sein. Wir hatten uns für eine rasche Weiterreise entschieden, um den Dornenwölfen zu entkommen, deren baldige Ankunft uns der Rosendschinn Dornblatt mit unheimlicher Vorfreude verkündet hatte. Auf dem Weg wandte ich mich an Bishdalia.
„Solltest du etwas über diesen geheimen Auftrag erfahren, von dem Lysandra von Lyckmoor gesprochen hatte...“ Meine Stimme war leise, doch meine Worte waren ernst und eindringlich. „Bitte schick einen Brief nach Alt-Bergenbach. Dort werde ich ihn abholen, sobald wir dort eintreffen.“ Auch sie, die Schwester des Markgrafen, hatte keine Ahnung von Gernots Machenschaften, wie sie mir glaubhaft versichert hatte. Bishdalia nickte ernst, bevor sie gemeinsam mit Elurion aufbrach, um sich nach Burg Mersingen zu wenden. Während sie auf die Straße nach Norden bogen, folgten wir dem Pfad nach Südwesten. Rahjadis, Alondro und ich gingen schweigend weiter, bis wir auf reisende Bauern trafen, die uns neugierig musterten. „Wir haben Golgariten gesehen“, sagte einer von ihnen und zeigte in Richtung Nordwesten. „Sie reisten mit blonden Mädchen." Und ich hatte auch eine Vermutung, was ihr Ziel war. Burg Mersingen. Bei Boron, hoffentlich konnte Bishdalia bald etwas in Erfahrung bringen.
Die Worte hallten unheilvoll in meinem Geist wider. Sicher war Nelly unter diesen Mädchen, entführt und weggebracht unter dem Banner des heiligen Ordens. In mir stieg wieder diese stille Wut auf, doch ich unterdrückte sie. Die Wahrheit würde ans Licht kommen, das war mein Glaube und mein Entschluss.
Das Unterholz wurde dichter, und der Weg vor uns verschwand fast gänzlich. An den Bäumen hingen frische Blätter, obwohl der Herbst bereits Einzug gehalten hatte. Ohne dass Rahjadis ihren magischen Blick einsetzte, war klar, dass wir der magischen Ader in Sumus Leib nahe waren. Bald darauf lag Deislar vor uns. Kein Dorfschulze, keine Büttel erwarteten uns. Wir fanden eine verlassene Ansammlung von Häusern mitten im Wald. Keine Menschenseele war zu sehen, und anders als in anderen Dörfern gab es nicht einmal das Gefühl von argwöhnischen Augen hinter zugezogenen Fenstern. Hier war es still - zu still.
Ich näherte mich einem der Häuser und klopfte an die Tür. Nichts. Kein Laut drang nach draußen. Vorsichtig betätigte ich den Türgriff und die Tür öffnete sich knarrend. Ich trat ein und rief: "Bei der Herrin Travia und bei Boron, zeigt euch, wenn hier jemand ist! Wir wollen nichts Böses, nur Unterkunft für eine Nacht." Doch meine Stimme verhallte ungehört. Das Haus war leer, verlassen. Staub lag auf den Oberflächen, und es war klar, dass hier schon lange niemand mehr gelebt hatte. Was war geschehen?
Alondro, der sich umgesehen hatte, rief uns. Er hatte im Wald hinter den Häusern Spuren gefunden: Pferde, die nach Gras suchten, Stiefelabdrücke und – beunruhigender noch – ein moosbewachsenes Skelett, das halb verborgen im Walddickicht lag.
„Das ist meine Angelegenheit“, murmelte ich und trat an die Gebeine heran. Ein seltsamer Schauer lief mir über den Rücken, als ich die Knochen betrachtete. Sie waren anatomisch korrekt angeordnet, das heißt, kein Wildtier hatte sich an dem Leichnam vergriffen. Fetzen von Kleidung hingen noch an den Knochen, die in meinen Augen auf einen Bauern oder eine Bäuerin hindeutete. Ich beugte mich hinunter und entdeckte den Rest eines Hosenbeins, das notdürftig zugenäht war. Der Mensch hatte nur noch ein Bein gehabt und seine Kleidung angepasst. Doch dies war es nicht, was mir die größte Sorge bereitete. Sondern der Brustkorb. Die Knochen auf der linken Seite waren zerschmettert, als hätte etwas Schweres sie getroffen. Ein Bild schoss mir durch den Kopf: Ein Rabenschnabel, die Waffe der Golgariten. Ich konnte nicht anders, als zu vermuten, dass die Ordenskrieger diesen Tod verschuldet hatten.
Ich richtete mich auf, nicht ohne dass mich ein Anflug von Stolz streifte für das, was ich herausgefunden hatte. Schließlich waren die Toten nicht mein Fachgebiet, ich bin keine Dienerin Golgaris, sondern eine Dienerin Bishdariels, die sich dem Dienst an den Lebenden verschrieben hat. Ich erklärte den anderen, was ich herausgefunden hatte. Alondro nickte langsam, während er die Knochen betrachtete. „Golgariten?“
„Vielleicht“, antwortete ich vorsichtig. „Aber sicher ist es nicht.“
Paske von Rabenmund half mir, ein Grab auszuheben. Das heißt, natürlich übernahm er den Löwenanteil. ich bereitete mich darauf vor, die Grablegung zu vollziehen. Als alles bereit war, hob ich die Hände zum Gebet gen Alveran und sprach die uralten Worte, die die Seele des Verstorbenen in die Hände Borons übergeben würden. Die Stille des Ewigen umhüllte uns, als ich die Liturgie vollendete, und wie immer hinterließ sie in mir einen tiefen Frieden. Der Körper würde nun in Sumus Erde zurückkehren, und die Seele würde Boron gehören.
Nachdem ich das Skelett beerdigt hatte, betrachteten wir das verlassene Dorf. Kein Haus, das uns willkommen hieß, aber auch keine Gefahr, die uns bedrohte. Wir hatten die Wahl, wo wir uns zur Ruhe betten wollten.