Meine Hand zitterte leicht, als ich den Federkiel über das Pergament führte. Ich schrieb mir meinen Zorn von der Seele. Bei manchen Stellen konnte ich kaum fassen, was ich da verfasste: Ein Brief an Markgraf Gernot von Messingen, in dem ich ihm meine Empörung über diesen sogenannten „Geheimauftrag“ darlegte, den er den Golgariten gegeben haben sollte. Mädchen zu entführen, und das noch unter Verwendung eines heiligen Ordens – das war selbst für mich, die ich im Kloster zu Gehorsam erzogen worden war, zu viel. Ich schrieb, dass ich nicht länger schweigen konnte. Er verhähmte Boron selbst, wenn er - der Markgraf - solche Taten im Namen Seines Ordens anordnete.
Einen zweiten Brief schrieb ich an die Großmeisterin des Golgaritenordens, Ihre Exzellenz Borondria. Für sie wählte ich sanftere Worte, um meine Sorge auszudrücken. Und ich fragte sie nach weiteren Traumgesichten des blinden, weißen Raben, da mir so frisch die Vision zuteil wurde. Bevor ich die Briefe jedoch absandte, las ich sie den anderen vor. Alondro lehnte lässig gegen die Wand und lachte leise, als ich endete. „Du meinst es ernst, nicht wahr?“ Er schüttelte den Kopf und grinste, als ob der Gedanke an eine Konfrontation mit dem Markgrafen ihn amüsierte.
Paske hingegen sah zweifelnd aus. „Noiona, vielleicht... vielleicht solltest du etwas milder mit ihnen umgehen? Du weißt, wie mächtig der Markgraf ist.“
Rahjadis nickte langsam. „Ich würde dir raten, den Brief an Gernot abzumildern. Es gibt Wege, deinen Punkt klarzumachen, ohne ihm zu sehr vor den Kopf zu stoßen.“
Also tat ich es und war erleichtert. Da Schreiben hatte meine Wut gelindert und ich zügelte meine Worte, strich einige besonders scharfe Passagen und sandte schließlich die Briefe ab. Boron würde mir die nötige Geduld geben, auf ihre Antwort zu warten.
Am nächsten Morgen begannen wir unsere Suche nach dem Mann, der in den Wäldern um Wulfen leben sollte. Alondro führte uns mit der Sicherheit eines geübten Jägers, und obwohl ich keinen Schimmer hatte, ob er Spuren, seiner Intuition oder einfach nur seiner Nase folgte, ging er zielstrebig voran. Anderthalb Stunden marschierten wir durch den dichten Wald, bis die Umrisse alter Ruinen zwischen den Bäumen auftauchten.
Ein Hügel, bedeckt mit Efeu und Farnen, erhob sich vor uns, und darauf thronte eine verfallene Festung. Die Mauern, die einst hoch und mächtig gewesen sein mussten, waren nun von der Natur überwuchert. Ein hölzernes Torhaus stand noch, und als wir es durchschritten, führte es uns in einen verlassenen Innenhof. Zwei alte Türme ragten an den Rändern des Platzes auf, und in der Mitte thronte ein Schrein – ein einfacher Steinquader, überwuchert von Pflanzen, mit ein paar kleinen, sorgsam arrangierten Gegenständen darauf.
Plötzlich durchbrach eine Stimme die Stille. „Wer seid ihr? Verlasst mein Refugium, oder ihr werdet den Zorn Sumus erfahren!“ Die Worte hallten bedrohlich in den Ruinen wider, doch wir blieben ruhig. Wir, das waren Alondro, Paske und ich – während Rahjadis sich diskret zurückzog. Da erhob sich aus dem Farn eine Gestalt. Ein Mann, jung und hager, in Lumpen gehüllt und mit bleicher Haut. Als ich in seine Augen blickte, stockte mir der Atem. Sie sahen aus wie meine. Er war ein Albino, wie ich. Die Überraschung, einen anderen zu sehen, der mein Schicksal teilte, ließ mich für einen Moment erstarren.
Er stellte sich uns als Zandon vor, Diener Sumus und Hüter dieses Ortes seit sechs Generationen. Seine Worte waren ohne Scheu, obwohl er wusste, dass ich eine Dienerin der Zwölfgötter war. Er erlaubte uns, uns umzusehen, während er uns einen einfachen Brennesseltee kochte. Als erstes besah ich den Altar-Stein. Er muss einst Peraine geweiht gewesen sein, denn er war mit eingemeißelten Ähren verziert, und ein Becher mit ihrem Symbol stand darauf. Getrocknete Kräuter hingen an den Wänden – ich erkannte Satuariensbusch, eine Pflanze, die unerwünschte Geistererscheinungen fernhalten konnte.
Als wir uns um seinen Kessel mit dem dampfenden Tee versammelten, begann Zandon von Al'Zul zu sprechen, jenem uralten Erdheiligtum, das irgendwo im Land verborgen lag. „Es ist nicht ungefährlich“, warnte er uns. „Das Heiligtum hat einen eigenen Willen. Seit der Zeit der al’hanischen Priesterinnen ist die Erdkraft in diesem Land überbordend.“
Er sprach von den Druiden und den Barbaren aus dem Gebirge, dem die wilden Stämme ihren Namen gaben, die beide das Heiligtum beanspruchen, und der schändlichen Missachtung der Menschen, die es entweihten. „Die Nekromanten“, fügte er bitter hinzu, „haben die Macht der Erde missbraucht. Seitdem ist das Heiligtum verschlossen. Niemand kann es mehr betreten." Es lag ein Vorwurf in seinen Worten.
Rahjadis war unterdessen wieder zu uns gestoßen. Sie setzte ihre unverglichliche Überredungskunst ein, um Zandon davon zu überzeugen, sich uns anzuschließen. Eine Pilgerreise nach Al’Zul, auf der er uns begleiten würde. Ich war froh darüber, dass er einwilligte. Ich wollte diesen anderen Albino, diesen Hüter der Erdkraft, näher kennenlernen. Mich faszinierte sein altes Wissen über das Land. Und mich faszinierte... nun ja... er selbst.
Perdan, der Perainegeweihte, beschloss, in Wulfen zu bleiben. Er würde dort das Werk seiner Göttin verrichten, zum Glück für Alondro und mich, die wir beide seine unermüdliche Gesprächigkeit nicht mehr lange hätten ertragen können.
Unser Weg führte uns weiter, nun nicht nur mit Bishdalia und Elurion, sondern auch mit Zandon als Begleiter für einige Zeit.