Früh am Morgen, als die Dunkelheit noch über Wulfen lag, stand ich gemeinsam mit Bishdalia vor dem Boronanger. Der Eingang wurde von einem schlichten, hölzernen Torbogen markiert. Die Stille des frühen Morgens war wie eine sanfte Umarmung Borons. Ein gutes Vorzeichen, um an diesem Ort die Nähe meines Gottes erneut zu verankern.
Kaum hatte ich das Tor durchschritten, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Die Luft schien plötzlich dichter, schwerer. Ohne Vorwarnung fiel plötzlich etwas von oben auf mich herab. Auf meiner Schulter landete ein Rabe, dessen ungewöhnliche Gestalt mir bereits vertraut war. Seine Federn waren weiß, seine Augen milchig-weiß, weil er blind war - Bishdariels Bote. Er kam nicht einfach zu mir, nein, er hob mich empor, trug mich mit seinen starken Schwingen in die Höhe. Der Boden unter mir verschwand, und in der Ferne sah ich, wie sich ein Fluss aus Blut von Wulfen nach Altzoll zog. Ich hätte die Stadt kaum wiedererkannt, wenn es mir mein Gefühl nicht untrüglich gesagt hätte. Dornen überwucherten sie, wie eine unheimliche, lebendige Mauer. Doch der Rabe flog weiter, als sei das erst der Anfang. Ich sah, wie er mich über den Todeswall trug, über Devensberg und das junge Heiligtum Sancta Boronia, bis wir schließlich eine Burg erreichten, groß und finster. Und dann, ohne Vorwarnung, ließ mich der Rabe los. Ich stürzte. Tiefer und tiefer fiel ich, ins bodenlose Nichts...
Mit einem Schrei erwachte ich und fand mich auf dem kalten Boden meiner Kammer wieder, den Atem heftig und das Herz rasend. Ich realisierte, dass ich im Schlaf aus dem Bett gefallen war. Ich hatte geträumt - aber es war mehr als ein Traum. Der blinde Rabe, die Dornen, die dunkle Burg… Ich denke, der Traumbote hatte mir den Weg zu Burg Mersingen gezeigt. Dorthin musste mich mein nächster Weg führen.
Das Morgengebet verrichtete ich hastig, die Eindrücke der Vision lasteten schwer auf mir. Doch die Pflicht rief, und so traf ich mich schließlich mit Bishdalia, der Schwester des Markgrafen. Gemeinsam machten wir uns auf zum Boronanger, um die letzte Ruhestätte der Toten zu weihen. Als wir den Friedhof betraten, war es fast unheimlich, wie sehr er dem Bild aus meiner Vision ähnelte. Die Gräber wirkten still und friedlich, doch der Boden trug die Spuren der Zeit: offen liegende, leere Gräber. Ich bereitete den Schrein vor. Mit geduldigen Händen putzte ich ihn und stellte frische Kerzen auf, platzierte eine Weihrauchschale, und ich legte zwei Heiligenbildchen von Sancta Noiona und Sancta Etilia nieder.
Bald darauf begann sich die Leute aus Wulfen zu versammeln, und Paske von Rabenmund und Donna Rahjadis fanden sich ein. Alondro glänzte durch Abwesenheit. Der Wirt der Herberge hatte die Nachricht von der Weihe verbreitet, und es schien, als wäre das ganze Dorf gekommen. Es tat gut zu sehen, dass Boron hier nicht vergessen worden war, dass die Menschen noch die Stille und den Frieden suchten, den nur er geben konnte. Oder dass sie immerhin wussten, dass sie Schuld wiedergutzumachen hatten.
Elurion ging voran und trug das Banner, das eraus Altzoll mitgebracht hatte: ein silbernes Boronrad auf schwarzem Grund. Bishdalia und ich folgten, während ich den Weihrauchschwenker sanft hin und her schwenkte, der Duft stieg auf und erfüllte die Luft. Während wir um den Anger schritten, rezitierte ich den "Choral des Heiligen Golgari", uralte Worte in der Übersetzung, damit die Dörfler mich verstanden. Mit jedem Schritt wurde ich ruhiger und fühlte mich sicherer, geborgener. Schließlich endete unsere kleine Prozession am Schrein, und es war Zeit für die Predigt, die ich auf der Reise hierher vorbereitet hatte. Ich sprach über den Tod und das Ende, das in vielerlei Gestalten während unseres Lebens zu uns kommt. Die Worte kamen leicht über meine Lippen, getragen von der Wahrheit, die sie für mich selbst hatten. Denn auch ich hatte das erfahren, von dem ich sprach.
Als der letzte Satz verhallt war, nahm ich das gesegnete Salböl und salbte damit das Boronrad am Schrein. Das Öl war ein Zeichen des göttlichen Schutzes und der heiligen Weihe, eine Verbindung zwischen Dere und Alveran, und dass Boron im Leben und darüber hinaus uns Menschen beisteht. Zuletzt brachte ich geweihte Graberde aus, die ich von einem anderen Boronanger mitgebracht hatte. Ich verstreute sie vorsichtig über die Gräber, damit Boron ihnen Seinen Schutz und Frieden gewähren möge. Bishdalia vollendete die Liturgie und bekräftigte die erneute Weihe mit den rituellen Worten: "Dies, Herr, sei Dein. Dieser Boden sei heiliger Boden."
Nach der Weihe blieben einige Dorfbewohner noch eine Weile. Sie waren sichtbar berührt. Besonders dankbar waren sie, dass ich mich persönlich um sie kümmerte. Ich verweilte auf dem Boronanger und sprach mit den Menschen, hörte mir ihre Sorgen an und teilte mit ihnen Worte des Trostes.
Die dunkle Vorahnung aus meiner Vision war über den Frieden Borons hier auf dem Anger vergessen.