Die Taverne von Wulfen war an diesem Abend erfüllt von einem leisen Murmeln, leisen Stimmen und dem gelegentlichen Klirren von Bechern. Alle Gemüter waren gedämpft. Wir saßen an einem Tisch in einer Ecke, und der Schein der Talglichter war gerade genug, um die Umrisse der anderen Gäste schemenhaft zu erkennen. Während wir dort saßen und uns mehr auf das Zuhören als auch das Reden verlegten, erfuhren wir , dass am Tag zuvor ebenfalls Kämpfer im Dorf gewesen waren - Drachengardisten. Sie hatten ebenfalls nach Mädchen gesucht, doch anders als die Golgariten, die sich ausschließlich auf Neunjährige konzentrierten, hatten sie nach Mädchen zwischen sechs und fünfzehn Götterläufen gesucht. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in mir aus. Warum diese Mädchen? Was war der Grund hinter dieser Suche?
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als ich Nellys Mutter bemerkte, die ich schon auf dem Marktplatz gesehen hatte. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen rot vor Trauer. Sie konnte nicht fassen, dass ihre Tochter fortgebracht worden war. Ich setzte mich neben sie. „Bitte“, flüsterte sie, ihre Stimme rau. „Findet Nelly. Ich flehe euch an.“ Ihre Hände griffen nach meinen, umklammerten meine Finger. Es war, als klammere sie sich an den letzten Funken Hoffnung, den sie noch hatte. Ich versprach ihr, herauszufinden, was mit den Kindern geschah. „Ich bin hier für die Weihe des Boronangers, und meine Reise hat mir viele Prüfungen abverlangt. Aber keine Prüfung ist schwerer als die, einem Menschen die Ungewissheit zu nehmen. Boron wacht über uns alle, und ich werde nicht ruhen, bis ich weiß, was mit Nelly geschehen ist.“
Die Mutter erzählte mir von einem jungen Mann, der in den Wäldern bei Wulfen lebte. Sie meinte, er wisse mehr über die Kraftlinien, die das Land durchzogen. Vielleicht konnte er uns Hinweise geben, welche Bedeutung diese Linien hatten. Ich machte mir eine geistige Notiz, ihn am nächsten Tag aufzusuchen.
Später in der Nacht entschied Alondro, einen Mitternachtsspaziergang zu unternehmen. Obwohl ich ebenfalls ein geübtes Auge in der Dunkelheit habe und mich leise durch die Schatten bewegen kann, hatten wir im Voraus besprochen, dass ich nicht mitkommen würde. Etwas an dieser ganzen Situation schien mir zu gefährlich, um unbedacht zu handeln. Dennoch, Alondro war ein Jäger, ein Mann, der mit der Wildnis vertraut war wie kaum ein anderer. Wenn jemand das Lager der Golgariten unentdeckt ausspähen konnte, dann er.
So blieb ich in der Taverne, den Blick auf das Fenster gerichtet, durch das ich das sanfte Licht des Madamals nur erahnen konnte. Während ich wartete, kreisten meine Gedanken um die Kinder, die draußen im Lager der Golgariten waren. Was hatten die Ordenskrieger mit ihnen vor? Warum handelte der Orden so, und wieso war Nelly „für Höheres bestimmt“? Fragen, die wie Schatten um mich herumtanzten, ohne eine Antwort zu finden.
Es war spät, als Alondro schließlich zurückkehrte. Sein Gesicht war wie immer wie ein offenes Buch, und ein zufriedenes Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Ich habe nicht viel herausgefunden“, begann er und setzte sich neben mich. „Die Golgariten halten ihre Geheimnisse gut verborgen. Aber...“ Er machte eine kurze Pause, und ein Hauch von Belustigung lag in seiner Stimme. „Ich habe eine wilde Feier unter ihren Pferden ausgelöst.“
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Was genau hast du getan?“
„Nun, ich schlich mich ins Lager, wie geplant. Aber es war alles still, keine nennenswerten Hinweise auf das, was sie mit den Kindern vorhaben. Sie haben über das Essen geredet, über das Wetter, über die Einteilung von Nachtwachen. Alles uninteressant. Bis es... einen kleinen Zwischenfall bei den Pferden gab.“ Er lachte leise. „Oder vielmehr gar nicht so klein. Die Pferde, nun, sie haben ein wenig... Panik bekommen. Bevor die Golgariten wussten, was geschah, sind sie in die Nacht hinausgaloppiert. Dann war ganz schnell das ganze Lager in Aufruhr, und ich konnte mich ohne weiteres davonschleichen. Und jetzt müssen sie erst einmal, mitten in der Nacht, ihre Pferde wieder einsammeln. Ha!“
„Boron, hilf uns“, murmelte ich und schüttelte den Kopf. Dieser Schelm! Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Alondro hatte es geschafft, Unruhe zu stiften, aber leider ohne Antworten mitzubringen. „Es gibt also nichts Neues über Gernot oder was sie mit den Kindern vorhaben?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Nichts, was uns weiterbringt. Nur, dass sie gut organisiert sind und ihre Mission mit unheimlicher Entschlossenheit verfolgen. Aber warum genau sie die Kinder sammeln, bleibt ein Rätsel.“
Während die Nacht fortschritt, kehrte mehr und mehr Ruhe in der Taverne ein. Auch mein Geist wurde schließlich ruhig. Ich sehnte mich nach der Stille Borons im Herzen, und die fand ich. Wie jede Nacht.