Es war mein zweiter Besuch in der Grafenburg, und als ich vor Markgraf Gernot von Mersingen stand, fühlte ich, wie die Spannung in der Luft lag. Der Markgraf war kein Mann der vielen Worte, doch sein Unmut über den Bericht, den wir ihm überbrachten, war unverkennbar. „Meine Stadt soll sich weiter überwuchern lassen? Ganze Stadtviertel soll ich aufgeben? Dschinne und magischen Unfug in meinen Häusern dulden?", hatte er gefragt, während seine Brauen sich bedrohlich zusammenzogen. Dass wir weder die wuchernden Gewächse noch die magischen Manifestationen in Altzoll so einfach wegzaubern konnten, war ihm alles andere als recht. Ich konnte seine Sorge verstehen, aber musste er dafür uns angehen?
Für uns stand immerhin bereits die nächste Reise in seinem Auftrag bevor. Früh am nächsten Morgen versammelten wir uns am Stadttor. Bishdalia von Mersingen, die Schwester des Markgrafen, stand dort schon bereit. Neben ihr hatte sich ein junger Golgarit mit kurzgeschorenem, dunklem Haar postiert - Elurion. Sie beide strahlten Ruhe und Entschlossenheit aus. Ein dritter Mann, der uns nicht angekündigt worden war, hielt sich ebenfalls bereit. Perdan Ährwald war ein Geweihter der Peraine, mit strubbeligem Igelhaar und der Energie eines frisch erblühten Frühlings. Er war ebenfalls recht jung und voller Enthusiasmus, der sich in einem nie versiegenden Wasserfall an Worten Bahn brach. Er redete ununterbrochen. Ich hielt mich aufgrund Bishdalias Präsenz zurück und sprach keine Zurechtweisung aus. Wer war ich, ihn zu mehr verbaler Zurückhaltung aufzufordern, wenn die Anwesenheit dreier Diener des Stillen Gottes ihm nicht den Mund verbieten konnte?
Wir marschierten los, durch das Land, das sich in den letzten Wochen sichtlich erholt hatte. Ich konnte zwar die Farben der herbstlichen Wiesen und Felder nicht sehen, doch das Gras wirkte gesünder, kräftiger. Ab und an sahen wir Vögel in der Luft, und die toten Flecken auf dem Land, die wir noch vor einigen Monaten bemerkt hatten, waren geschrumpft. Ein leichter Nieselregen fiel, doch er störte niemanden von uns – wir waren an dieses Wetter mittlerweile gewöhnt.
Zur Mittagszeit erreichten wir ein Dorf namens Rossdorf. Rahjadis, unsere Magierin, erklärte, dass wir auf dem Weg hierher die Kraftlinie verlassen hatten, jene magische Ader, die das Land durchzog. Rossdorf selbst schien auf den ersten Blick unspektakulär. Doch mir fiel ein Schrein auf, der dem göttlichen Schmied Ingerimm geweiht war. Das filigrane Namensschild, das in der schmiedeeisernen Verzierung des Schreins hing, war neu, und ich hielt dort inne, um still zu beten und eine Münze zu spenden. Endlich war ich meine Verkleidung als Nekromantin los. Endlich konnte ich wieder für alle sichtbar danach streben, ein Vorbild an Frömmigkeit zu geben.
Als ich mich abwandte, hatte ich eine merkwürdiger Begegnung. Ein kleines Mädchen starrte mich mit großen, fragenden Augen an. „Mama, nehmen die jetzt auch Leute mit?“, fragte sie laut und ohne Scheu. „Sei still!“, zischte ihre Mutter und zog sie hastig weg. Die Worte des Kindes ließen mich aufhorchen. Etwas stimmte hier nicht.
Alondro, mein treuer Begleiter, erfuhr später von einem Tischler im Dorf, dass angeblich Golgariten zwei Kinder mitgenommen hätten. Die Nachricht ließ Bishdalia und Elurion sich entsetzt und ungläubig ansehen. „Das ist unmöglich!“, protestierte Elurion. „Keine Golgariten würden so etwas tun!“ Der Bericht und das, was ich beobachtet hatte, deuteten jedoch darauf hin, dass diese Gestalten mit allen Insignien des Ordens ausgestattet waren. Vier Kämpfer in schwarzen Rüstungen, mit dem Rabenschnabel bewaffent und mit weißen Umhängen angetan. Der Gedanke an solche Kindsentführungen erfüllte mich mit Unbehagen.
Wir verließen Rossdorf und setzten unseren Weg nach Wisseln fort, einem Dorf, das wie ausgestorben wirkte. Nichts rührte sich, keine Menschen waren auf den Straßen. Doch wir bemerkten alle die Augen, die uns aus den Fenstern heraus auf Schritt und Tritt beobachteten. Ein Junge, nicht älter als vierzehn Götterläufe, nahm sich schließlich ein Herz, als ich ihn erspähte, wie er sich hinter einer Hausecke versteckte, und winkte ihn heran. Als er schließlich zu mir trat erzählte er, dass die Golgariten nach einem Mädchen suchten. Sie sei neun Jahre alt. Was sollte das bedeuten? Bishdalia und Elurion waren ebenso ratlos wie ich. Welche dunklen Gestalten hatten sich hier als Diener Borons ausgegeben? Ich hatte die Drachengarde im Verdacht, die sich als die neuen Machthaber im Lande tarnten.
Das Rätsel blieb ungelöst, und wir entschlossen uns, weiterzuziehen. Noch in meinen trüben Gedanken versunken, bemerkte ich erst jetzt die Worte Alondros. Er lächelte und zeigte auf das Land um uns herum. „Es wird wieder grüner.“ Seine Worte gaben mir einen Funken Hoffnung. Vielleicht heilte das Land wirklich, auch wenn das Dunkle in den Menschen sich noch nicht völlig zurückgezogen hatte.
Als wir uns Wulfen näherten, unserem Ziel, hielt Rahjadis inne und wirkte einen Zauber, um die magische Ader in der Erde zu lokalisieren. Sie teilte uns mit, dass die Kraftlinie durch die Felder verlief, die das Dorf umgaben. Es war ein gutes Zeichen, befand ich, dass wir hier den Boronanger neu weihen würden.