Aufbruchstimmung in Altzoll – es regnete ausnahmsweise nicht. Fast schien die Sonne durch die Wolkendecke, als hätten sich die Götter erbarmt, uns an diesem Tag zumindest ein wenig Licht zu schenken. Ich stand auf dem Platz vor dem Hotel, das immer noch den Namen "Knochenfaust" trug, als ein Golgarit mit ernster Miene auf mich zukam. „Für Eure Mission“, sagte er und reichte mir zwei Pfeile. Sie waren aus schwarzem Holz und auf den Schäften leuchteten in heller Schrift bosparanische Segenssprüche: Requiem aeternam dona eis, Domine Boron. - "Gib ihnen die ewige Ruhe, oh Herr Boron" stand auf einem. Und auf dem anderen: Expurga animas a tenebris, ne resurgant in corruptione. - "Reinige die Seelen von der Finsternis, damit sie nicht in Verderbnis auferstehen." Ich nahm sie ehrfürchtig entgegen. Einen gab ich Alondro, dem zielsicheren Schützen, den anderen behielt ich.
Später war ich es, die den Orden des Heiligen Golgari aufsuchte. Ich übergab die nekromantischen Bücher, die wir in Bleichau bei Tijakon und in Altzoll im Gildehaus der Nekromanten beschlagnahmt hatten, zur sicheren Verwahrung. Diese Bücher durften keinesfalls in falsche Hände geraten. Erleichtert sah ich, wie der Ordenskrieger, vielleicht ein Geweihter, sie vorsichtig fortbrachte.
Danach wandten wir uns Markgraf Gernots jüngstem Auftrag zu: der Inspektion von Beinwerk, dem Viertel der Handwerker und, zu meinem Unbehagen, der Totenbeschwörer. Schon beim Betreten des Viertels spürte ich die Kälte, die trotz des fast-Sonnenscheins durch die Straßen kroch. Die Häuser waren mit Moos überwuchert und der süßliche Duft von Blumen und Kompost hing in der Luft. Bei unserem letzten Besuch in diesem Viertel waren die Häuser noch nicht so begrünt gewesen. Und es waren noch mehr Pflanzen, die die Wände eroberten: Blutblatt, in dieselben Abart, die auch an der Dämonenmauer gewachsen war - winzige, blutrote Dornen bedeckten die Ranken - und immergrüner Efeuer. „Bleibt ihm fern“, warnte ich die anderen. „Es brennt auf der Haut.“
Als wir das Siechenhaus erreichten, bot sich uns ein unheimlicher Anblick: Efeuer, Blutblatt und dorniges Gestrüpp, das Alondro "Spinnendorn" und "Sicheldorn" nannte, hatten das Gebäude vollkommen überwuchert. Wie eine zweite Mauer umgaben die Hecken das Haus, und aus dem Inneren wehte uns der Geruch von Thymian, Basiliskum und einer Blütenpracht entgegen, die hier nicht hingehörte.
Als wir uns einen Weg durch das Dickicht bahnten, blieb ich plötzlich hängen. Die Dornen hatten meine Robe erfasst und ließen mich nicht mehr los. Ich verbiss mir ein Schimpfwort und blieb stehen. Mir war bewusst, dass reißen und zerren mich nur noch mehr verstricken und meine Kleidung ruinieren würden. Es war Alondro, der mich schließlich mit geübter Hand befreite. Rahjadis und Paske hingegen kämpften sich mit eigener Kraft durch das dornige Hindernis.
Drinnen erwartete uns jedoch eine andere Art von Ungeheuerlichkeit. Der Geruch von Verwesung und verrottetem Holz erfüllte meine Nase. Alondro musterte mich mit seltsamer Neugier – oder besser gesagt, er schaute über meine Schulter, als sähe er etwas, das ich nicht wahrnahm. Er sagte nichts, aber später erfuhr ich, dass sich ein sogenanntes Dungschwammerl, ein minderer Geist, auf meiner Schulter niedergelassen hatte. Es schaudert mich noch immer bei dem Gedanken. Unsere Magierin, Rahjadis, hatte ein freundlicheres Willkommen: Sie stieß auf ein Erdgnom, ein kleines Wesen, das neugierig auf uns starrte. Mit einem simplen Flim Flam zauberte sie eine Lichtkugel herbei, mit der das Wesen sofort zu spielen begann.
Die Mitte des Raumes nahm ein gewaltiger Tossapfelbaum ein, der mit seinen holzigen Äpfeln und den dornenbewachsenen Ästen das neue Zentrum des Siechenhauses... nein, nun dieses Gewächshauses bildete. Und dann hörte ich plötzlich eine Stimme. „Habt ihr mich ja doch gefunden!“, rief jemand. Vor uns stand ein Mann - oder vielmehr ein Dschinn. Seine Haut war dunkel, später hörte ich von den anderen, dass sie grün schimmerte wie Moos, und aus seinem Kinn spross ein Bart aus feinen Stacheln.
Rahjadis trat vor. Anfangs war er wenig gesprächig, und nicht gut auf Menschen zu sprechen. Ich konnte seine Abneigung gegen uns in seinen Augen lesen. Ich muss gestehen, dass mir seine Denkweise fremd war, da er sich doch merklich von den Verhaltensweisen von uns Menschen unterschied. Ich bin mir relativ sicher, dass dies sowohl für Rahjadis als auch für Alondro gar nicht so augenscheinlich war wie für mich. Sie schienen sich jedenfalls nicht groß an der Art des Naturgeistes zu stören, und so überließ ich ihnen dankbar das Verhandeln mit ihm. Ich half lediglich mit, ihn davon zu überzeugen, dass wir zwar Menschen waren wie alle anderen Einwohner Altzolls auch, dass uns aber - anders als jenen - das Wohl der Natur und des Landes besonders am Herzen lag. Denn für ihn war es sehr wünschenswert, dass sich die Pflanzen die gesamte Stadt einverleiben sollten.
Und tatsächlich – langsam entspannte sich die Haltung des Dschinns.
Nach und nach offenbarte er uns die Wahrheit. Das Unheiligtum der Herrin der Heulenden Finsternis habe die Magie des Landes in Besitz genommen, erzählte er. Doch nun sei die Kraft wieder freigegeben, und das Land könne heilen. Ein altes Heiligtum, Al’Zul genannt, liege dort, wo die Quelle dieser Kraft entspringe. In Rahjadis' Worten: die Kraftlinien flossen von diesem Ort aus. Ich sah zu Adepta Rahjadis, die konzentriert den Worten des Dschinns folgte. Die Reise zu diesem Ort würde uns in die Richtung führen, wo die Sonne untergeht - gen Efferden also. Wir hatten bisher von diesem Heiligtum nichts gehört, aber die Worte des Dschinns ließen uns nicht daran zweifeln, dass es existierte.
Mit einem letzten Nicken verabschiedete sich der Dschinn, und die dichten Ranken um uns begannen sich zu bewegen, als hätten sie seinen Befehl erhalten. Der Weg lag vor uns, doch was würde uns dort erwarten? Weitere urtümliche Naturkräfte, die erwacht waren und das Land gegen uns Menschen verteidigten? Dieser bange Gedanke ließ mein Herz schneller schlagen.