
Zum Thargunitoth-"Tempel" zog es uns nicht gleich als allernächstes. Aus dieser Richtung kamen wir, da dort gegenüber unser Hotel lag.
Das nächste Stadtviertel trug den Namen Grafbergen.
Wir näherten uns hier der Festung der Stadt, in der der Verräter Lucardus von Kémet residierte. Wobei er just, als wir gestern die Stadt betraten, selbige verlassen hatte.
Die Häuser waren hier reicher geschmückt. Die menschlichen Zierknochen an den Fensterläden und Hauswänden waren vergoldet oder mit anderen Edelmetallen beschlagen. Es gab Gärten und mehr Platz zwischen den einzelnen Häusern, die man bisweilen als Villen bezeichnen musste.
Unsere Füße trugen uns zum Schuldturm Trollenwarte.
An seinem Eingang hielt eine gewissenhafte Drachengardistin Wacht. Unsere charmante Al'Anfanerin brachte doch noch ein Gespräch mit ihr in Gang. Eine Seele wohnt hier, fuhren wir. Auf Geheiß von Arnhild von Darbonia, der Stadtvögtin, musste sie stets traurig genug sein um uns zu schützen und zu warnen. Mehr bekam Rahjadis nicht aus ihr heraus.
Für mich klang das nach einer gefesselten Seele. Sie war vermutlich doch einen Schicksalsschlag an diesen Turm gebunden und konnte ihn nicht verlassen. Aus ihrem Leben hatte diese Person außerdem eine für sie überaus wichtige Aufgabe, die sie nicht erledigen konnte, über den Tod hinaus mitgenommen. Und erst, wenn diese Aufgabe erledigt war, konnte sie Erlösung finden und in Borons Hallen einziehen.
Ob der Name "Trollenwarte" darauf hinweis, dass es die Seele eines Trolls war? Die Drachengardistin konnte es uns nicht sagen. Donna Rahjadis und ich hatten immerhin schon auf unserer Reise herausgefunden, dass auch Oger eine Seele hatten. Und Oger und Trolle gelten als Verwandte. Also halte ich es für möglich - nein, sogar für sehr wahrscheinlich -, das auch Trolle eine Seele besitzen.
Interessanterweise weiß ich von keinen Brüdern oder Schwestern, sei es in den Kirchenorden oder in den Kirchen Borons selbst, die sich mit der Frage nach dem Seelen der großwüchsigen Völker (Trolle, Oger, Riesen) beschäftigt hätten. Meine Lebensaufgabe wird es jedoch auch nicht sein.
Ab jetzt war es mir jedenfalls ein Anliegen, dass ich diese arme Seele im Hinterkopf behielt. Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber bei der Befreiung Altzolls würde die Seele in ihrem Turm noch eine wichtige Rolle spielen.
Nun war der Punkt erreicht, an dem sich Alondro wieder von uns abspaltete. Dieser Jäger braucht wohl sein Dasein als Einzelgänger.
Wir beschlossen, dass wir uns am Richtplatz wieder treffen würden, um gemeinsam diesen schrecklichen "Tempel" der Herrin der heulenden Finsternis zu besuchen. Mich graute davor, aber ich fürchtete auch, dass den anderen möglicherweise Dinge entgehen könnten, die meinen theologisch geschulten Auge auffallen würden.
Dort trugen wir zusammen, was wir in der Zwischenzeit erfahren hatten:
Arnhild von Darbonia oblag es als Stadtvögtin, Altzoll während der Abwesenheit Lucardus' zu verwalten. Sie bewohnte eine Villa in Grafbergen. Diese Villa wird ständig von fünf Drachengardisten bewacht und sie hat mehrere Leibwächter. Niemand wird zu ihr vorgelassen.
Der Kommandant der Drachengarde war Tykran Bluthand. Er übernimmt im Angriffsfall das Kommando. Daher herrscht zwischen ihm und Arnhild stets eine gewisse Rivalität um die Gunst Lucardus'.
Arnhild war also gut bewacht und der Kommandant der Drachengarde war höchstwahrscheinlich selbst sehr wehrhaft. Mit roher Gewalt kamen wir vier nicht an sie heran. Doch vielleicht konnten wir uns diese Rivalität in den verbleibenden zweieinhalb Tagen irgendwie zu Nutze machen.