Die eigene Buße
Wir erholten uns, jede und jeder auf seine Weise. Paske zog sich zurück und widmete sich Waffenübungen. Rahjadis verbrachte viel Zeit in einem Zelt, das als Taverne des Lagers genutzt wurde. Doch nicht alleine der Zertreuung wegen: Ihr erklärtes Ziel war, unseren Leumund unter den Soldaten und Kriegerinnen des Markgrafen zu etablieren, indem sie unsere Rolle beim Fall des Walls kundtat. Obwohl dieses Ansinnen die Eitelkeit der Grandessa widerspiegelt, schätzte ich ihre Bemühungen um unseren Ruf.
Ich selbst vertiefte mich in meine Stundengebete und suchte einen geweihten Diener Praios' auf, um zu beichten. Ich fühlte, dass ich mich auf unserer gefahrvollen Erkundung schuldig gemacht hatte: Der Gedanke ließ mich nicht los, dass wir den Pfeifer von Brabak, diesen Magier im Dämonenwall, getötet hatten. Er hatte einen Pakt mit der Herrin der heulenden Finsternis geschlossen und mit seinem Tod hatten wir ihn nicht Borons Richtspruch, sondern den Qualen der Seelenmühle überantwortet. Und dies bedeutete, dass er einst in Dämonengestalt zurückkehren wird, um die Reihen der Götterfeinde zu verstärken.
Doch wie hätten wir anders handeln sollen? Ich weiß es nicht. Am liebsten hätte ich ihn der Praioskirche übergeben, damit sie versuchen solle, seine Seele zu retten. Aber er war nach einem einzigen Schwertstreich Paskes tot gewesen.
Donator Lumini Praiodur Sonnenblick nahm sich Zeit für einen gemeinsamen Gang durch das befestigte Lager. Nachdem ich meine Schilderung geendet hatte, blickte er mich gütig an. Meine Kümmernis, das erkannte ich in seinem Ausdruck, konnte er nicht vollends nachvollziehen.
"Meine Tochter", sagte er mit hoher Stimme, "was wünschst du nun von mir?"
Ich äußerte meinen Wunsch nach Buße und da lenkte er nach kurzem Bedenken ein. "Wenn dies auf deiner Seele lastet, so ist mein Verdikt: Vergilt es den Zwölfen, indem du eine Seele vor der Verdammnis errettest."
Eine gerrettete Seele für die Erschaffung eines Dämonen? Ich dankte dem Donator Lumini, aber befand seinen Urteilsspruch für zu lax. Daraufhin sagte ich entschlossen: "Euer Gnaden, ich werde es fünfmal wiedergutmachen!" Er war damit zufrieden.
Nach ein paar Tagen der Rast, während der wir an keinem der Scharmützel am Todeswall teilnahmen, sandte Gernot von Mersingen abermals nach uns. Wieder standen wir in seinem Zelt, wieder war der Heermeister Welfert von Mersingen zugegen. Ihre Exzellenz Borondria von Garrensand fehlte diesmal. Littia und Weso ebenso. Statt der Geschwister war ein Mann zugegen, der in robuste Kleidung gehüllt war und zwei Bögen - Kurz- und Langbogen - bei sich trug.
Der Markgraf schickte uns zusammen mit dem Mann, den er als Jäger namens Allondro Collophon vorstellte, auf eine neue Mission. Littia und Weso waren mit anderweitigen Aufgaben betraut, teilte er mir auf meine Frage hin mit, was ich bedauerte. Sie waren mir ans Herz gewachsen. Allondro hingegen maß sowohl Donna Rahjadis als auch mich mit unverhohlenen, abschätzigen bis geringschätzigen Blicken. Zu ihm war Rahjadis' Kampagne, unseren guten Ruf zu verbreiten, offenkundig noch nicht durchgedrungen.
Erneut sollten wir dem Heer voranreisen. Diesmal galt es, den Weg bis nach Altzoll zu sichern. Er brauchte uns als Späher, die mögliche Gefahren ausmachten und beseitigten und als Spione, die in Altzoll eindrangen - die erste große, befestigte Stadt auf dieser Seite der Dämonenmauer, die sich der Verräter Lucardus von Kémet als Herrschaftssitz gewählt hatte.
Angesichts dessen, was wir zu fünft mit vereinten Kräften im Todeswall geleistet hatten, erschien mir dieser neue Auftrag machbar.
Wir hatten drei Tage Vorsprung vor dem Heer und drei Brieftauben, mittels derer wir Gernot von Mersingen über unsere Erkenntnisse und Fortschritte unterrichten würden.
Vorher war es mir jedoch ein Anliegen, unseren neuen Begleiter zu prüfen. Ich forderte ihn auf, sein Können für Donna Rahjadis und mich unter Beweis zu stellen: Wie gut traf er mit seinen Bögen? Ich sah Hochmut in seinem Blick, als ich meine Aufforderung an ihn herantrug. Es wird sich zeigen, ob er zurecht so von seinem Talent mit dem Bogen überzeugt ist. Ich deutete auf eine Zielscheibe, die in einem Baum hing. Er nockte einen Pfeil an die Sehne, blickte auf sein Ziel, spannte den Bogen... und in diesem Moment lehnte ich mich zu ihm und wisperte in sein Ohr: "Lass' dich nicht ablenken!"
Er entließ den Pfeil und verriss den Bogen kein bisschen. Ein guter Schütze, eine sehr gute Selbstbeherrschung.
Entgeistert blickte er mich an, wortlos vor Verblüffung. Ich zuckte nur mit den Schultern. Wir hatten keinen guten Start miteinander, aber wir würden schon miteinander klarkommen. Wir mussten.