Der Wall fällt.
Oder: Wir sägen am eigenen Ast.
Donna Rahjadis lag also in Argansud-Paralyse und wir wollten sie in diesem Zustand in den Dämonenwall mitnehmen, den wir allein mit ihrer Macht zerstören wollten.
Zuerst bauten wir aus dem Leder, das in der Hütte die Türe darstellte, eine Trage, die Paske und Littia wie eine Hängematte über den Schultern trugen. Darin betteten wir Rahjadis. Da erkannte Weso, dass einzig er jetzt für unsere Sicherheit verantwortlich war.
Es war eine klare Mondnacht, in die wir aufbrachen. Bei Nacht sah die Mauer lebendiger aus als am Tage. Wir bemerken Bewegung auf den Zinnen, die Skelette marschierten auf und ab, unentwegt, den Blick scheinbar gen Efferd gerichtet. Dort war das Heer.
Weso kundschaftete voraus. Keuchend langte er wieder bei uns an und benachrichtigte uns, das all die versammelten, wartenden Skelette fort waren. Es schien, dass der Wall die nahende Gefahr bemerkt hatte. Das war gut für uns, denn so stellten sie für uns keine lauernde Gefahr mehr dar.
Erneut stiegen wir gemeinsam in die Kasematten in den Todeswall. Erneut umfing uns der muffige Geruch. Erneut gingen wir Schritt um Schritt tiefer, bis in den letzten Raum, in dem sich die baumartiges Säule im Dunkel der Höhe verlor. Meine Markierungen mit Kreide wiesen uns den Weg. Ich war erleichtert zu sehen, dass sie noch da waren. Auch die Ranken waren noch da und pulsierten an den Wänden.
Der erste Geist der Angroschim erschien - es war Xebrosch. Er zeigte sich wohlwollend überrascht, dass wir tatsächlich zurückgekehrt waren. Auch wenn er im Tode alle Zeit der Welt hatte, wir hatten sie nicht und hielten uns nicht und Plaudereien auf. Donna Rahjadis wirkte ihren Zauber, die Säule wurde weich und sie nahm das Gestein in ihre Hände und strich es nach unten, sodass sich unter ihren Händen die Form einer Sanduhr bildete. Schließlich wischte sie mit einer entschlossenen Handbewegung das schmale Mittelteil beiseite: “Geht alle schon mal raus, ich komme dann nach.“ Denn sie war mittlerweile wieder in der Lage, eigenständig zu laufen. Sie trennte die letzte Verbindung und die Mauern bebten. Das Rumpeln dröhnte in meinen Ohren, immer tiefer und durchdringender, während die Erschütterungen immer stärker wurden. Steine, dann Trümmer vielen von oben herab. Die Decke stürzte ein! Ein Brocken traf Paske, aus seiner Stirn quoll Blut. Ich spürte jedoch noch etwas anderes, etwas, das weniger körperlich war, aber weitaus bedrohlicher. Etwas riesiges, dämonisches brüllte auf. Meine Ohren schmerzten - nein, mein gesamter Körper wurde mitgerissen. Ich stürzte, als ob mich etwas Gewaltiges zu Boden geworfen hätte. Aufrappeln, trotz der Orientierungslosigkeit. Hinein in die Schwärze der Tunnel, weg von dieser schrecklichen Präsenz.
Es wurde tatsächlich besser, als wir uns aus der Halle entfernten, so kopflos unsere Flucht auch war. Im zweiten Raum beobachtete uns das Rankengesicht Jaramillios. Anders als die Zwerge hatte er uns scheinbar erwartet.
Ich bat ihn um Unterstützung und fragte ihn, ob er diesen Raum im wahrsten Wortsinne mithilfe seiner Ranken unterstützten konnte? Es lag wohl nicht in seiner Macht, denn er gab mir zur Antwort, dass er entweder mich unterstützen konnte, mich beschützen konnte oder meine Verbündeten unterstützen. Ohne zu zögern wählte ich letzteres. “Donna Rahjadis ist am wichtigsten.", gab ich ihm mit.
Jaramillio warnte mich, dass uns Gefahr aus den Öffnungen drohte, derer der Raum mehrere aufwies. "Skelette?", fragte ich nur. Er formte ein Nicken.
Doch Rahjadis hatte noch genügend Zeit, um wieder ihren Zauber durchzuführen. "Und los!", rief sie und diesmal war ich nicht so zaghaft in meiner Flucht. Ich lief sogleich los. Wieder stürzte der Raum ein, doch diesmal riss mich keine unsichtbare, wütende Macht zu Boden. Vielleicht war der Dämon im Wall bereits geschwächt?
Dank des Einsturzes hatte ich ebenfalls genügend Zeit, um meinen Weihrauchschwenker zu entzünden - für den Bann wider Untote, denn Jaramillio hatte Skelette prophezeit. Aus dem Geröll, das im eingestürzten Raum lag, krochen sie wie Schaben hervor. Ihre Knochen knackten auch nicht unähnlich wie die Glieder dieser Insekten.
Da übertönte für einen Moment ein anderes Geräusch das Kratzen und Kriechen: Ein Horn erscholl von fern, kurz hörten wir auch rhythmisches Klappern. Die Armee der Toten war losmarschiert, dem Heer des Markgrafen von Mersingen entgegen.
Auch in der Kammer entbrannte ein Kampf: Die pulsierenden Tentakeln des Walls griffen die Ranken Jaramillios an. Ich hielt mich nicht damit auf, das Spektakel zu beobachten. Unruhig sah ich mich um, denn ich hatte das Gefühl dass wir beobachtet wurden. Während Rahjadis im letzten Raum ihren Zauber wirkte, wurden die Tentakeln, die auf unserer Seite waren, immer weniger und schwächer. Ich überraschte mich selbst, als ich meinen Dolch zückte und Jaramillios Bemühungen beiseite sprang. Meine Klinge hatte alle Mühe, die dämonisch verformten und mit spitzen Dornen bewehrten Ranken zu durchtrennen. Doch wenn ich nur das Zünglein an der Waage war, so waren es die Kratzer an meinen Händen doch wert.
Ein Brausen und Lärm aus den anderen Gängen - Kampfes Lärm - ließ uns aufhorchen. Aus der Richtung der Kammer, von dem wir kamen, griffen Skeletthände nach uns. Damit es schneller ging, beendete Rahjadis den langwierigen Zauber und befahl Paske, das letzte Stück mit seinem Schwert durchzuschlagen. Entsetzt wandte ich mich zu dem Ritter um. Musste er womöglich sein Schwert, sein altes und ehrwürdiges Familienerbstück, für diese Aufgabe opfern? Würde es dem Schlag gegen dämonischen Stein standhalten? Er holte weit aus, fast schon meinte ich zu sehen, wie sich seine Muskeln unter der Rüstung anspannen. Ein weit geführter Schlag gegen die schmale Säule, ein greller Funke blitzte beim Auftreffen... Ja, es klappte! Der Stein war durchtrennt. "Reeeennt!", schrie Rahjadis und kam umgehend ihrer eigenen Aufforderung nach.
Paske geriet ins Straucheln, er fiel hinter uns zurück. Das wollte ich nicht zulassen, griff nach seiner Hand und zog ihn weiter. Ein tiefes Dröhnen wallte aus der Tiefe zu uns nach oben und durch uns hindurch. Es war wie der unsichtbare Schub beim ersten Mal, nur viel stärker.
Wir stürmten durch die Kasematte. Sie war immer noch leer, den Göttern sei Dank. Die ersten Strahlen der Morgensonne drangen durch den Wolkendunst. Das Geräusch von marschierenden Stiefeln und ...eines Praioschorals drang an unsere Ohren. Nie zuvor hatte ich Schöneres gehört.
Wir hörten immer noch nicht auf zu rennen. Erst als wir das Gefühl hatten, dass wir nicht verfolgt wurden und dass uns keine herabfallenden Trümmer erschlagen würden, hielten wir inne und schauten uns um. Der Wall stürzte ein. Zwölfgöttergefällige Kampfesrufe - "Bei Praios!" - "Bei Boron." - "Für Rondra!" - schallten uns entgegen.
Das Heer war da. Der Kampf war in vollem Gange.