Durch den Schleier Sancta Boronias
Wir erhielten Pferde; Donna Rahjadis' Wahl fiel auf ein elegantes, weißes Tier, während ich Wert darauf legte, einen Wallach zu bekommen, von dem ich mir viel Geduld mit mir als unerfahrener Reiterin erhoffte. Seine Fellfarbe war dunkel - schwarz, nehme ich an, oder ein sehr dunkles Braun - und ich nannte ihn Marbèso.
Auch unsere beiden Kundschafter Littia und Weso wurden mit Reittieren versorgt. Offenkundig waren sie bis dato ebenfalls zu Fuß gereist.
Noch am selben Tag brachen wir gen Osten auf. Der Todeswall zog sich als bedrohliche Schattenlinie quer durch das hügelige Land. Felsige Findlinge krönten die rollenden Hügel. Zu beiden Seiten - im Norden und Süden - erhoben sich die Gebirge: im Süden die Trollzacken, im Norden die Schwarze Sichel.
Eingebettet in die weitläufigen Wälder und Wiesen schimmerte weiß eine Nebelbank. Dahinter - oder vielmehr: darin - verbarg sich unser erstes Ziel. Es war Sancta Boronia, das jüngste Boron-Heiligtum Aventuriens. Der weitläufige Tempel befand immer noch im Bau, aber er war im vorigen Jahr bereits geweiht worden, durch den Raben von Punin selbst. Sogar eine Delegation aus Al'Anfa war geladen worden und durfte der Zeremonie nach dem alten Puniner Ritus beiwohnen. Ich hatte das Gerücht gehört, dass es bei der Weihe zu einer Heiligenerscheinung gekommen war. Der Rabe von Punin, Bahram Nazir, hatte die Fingerknöchelchen der Heiligen Etilia mitgeführt, um mit dieser hochheiligen Reliquie die Weihe durchzuführen. Die Heilige sei den versammelten Gläubigen während der Zeremonie erschienen, war mir zu Ohren gekommen.
Ach, wie schade dass ich bei diesem historischen Ereignis nicht dabei gewesen bin!
Ob sich während des Weihe-Borondienstes auch das Wunder ereignet hatte, dass sich diese Nebel erhoben, die Sancta Boronia seitdem vor allen Blicken verhüllen?
Je näher wir ritten, desto unnatürlicher und fremdartiger wirkte der unbewegliche Block aus Nebel. Vielleicht zwei Schritt weit konnte ich noch den Weg und die Wiese verschwommen erkennen. Dahinter war alles reines Weiß, nicht einmal der Wind ließ die Nebelwolken wabern. Der Anblick ließ uns in gebanntem Schweigen erstarren und ich fühlte mich aufgeregt und zugleich von einer unbewegten Ruhe - bis ein Rabenkrächzen aus dem Nebel drang, scharf und klar, und den Bann brach. Paske trat an die Grenze zum Nebel: “Dies ist, so sagt man, die Schwelle die man überschreiten muss, um zu Boron zu gelangen. Ich würde Euch gerne den Vortritt lassen.” Eine reichlich pathetische Formulierung, 'zu Boron gelangen' umschreibt eigentlich den Tod. Der Rabenmund'sche Ritter blickte zu mir und ich trat ohne weiteres Zögern hinein...
...und fand mich auf der anderen Seite wieder, im Inneren des Nebelkreises auf einer Straße. Ich kann mich bis zum heutigen Tag nicht an den Weg durch den Nebel erinnern.
An der Straße standen ein paar Gebäude: ein Gasthaus, ein Stall, eine Scheune. Meinen Blick zog unweigerlich das Gebäude auf sich, das am Ende der Straße thronte. Dies war Sancta Boronia. Die Front des Tempels erhob sich mehrere Stockwerke über den Grund und glänzte in schwarzem Marmor. Eine große Treppe führte hinauf zum erhöhten Portal. Rabenstatuen flankierten die Stufen und wechselten sich mit Säulen ab. Die Kuppel war mit einem Boronrad gekrönt, das im ewigen, diesigen Licht hier im Nebel silbern schimmerte.
An der Straße – trotz des gedimmten Lichts - standen grüne Bäume. Auf ihren Ästen saßen Dutzende und Aberdutzende Raben. Und als wären dies noch nicht genug Sinneseindrücke, war die Luft schwer von einem Duft, den die blühenden Orchideen verstömten, die in großzügigen Beeten prächtig wucherten. Es waren Boronien, eine heilige Pflanze Borons, die nur an seltenen und Boron-nahen Orten im Süden Aventuriens wuchsen.
Und in Sancta Boronia.
Knapp hinter mir traten meine Gefährten aus dem Nebel. Paske bot an, unsere Pferde bei der Pilgerherberge unterzustellen. Es kam mir sehr gelegen, denn ich wolle mich durch nichts davon abhalten lassen, zuallererst das Heiligtum zu besuchen. Als ich am Fuß der Stufen angelangt war, stand oben auf der Treppe eine ätherische Gestalt, die einladend die Arme hob. Obschon ich ihn noch nie gesehen hatte, wusste ich sofort um wen es sich handeln musste - den Praetor und Schweigenden Aedin zu Naris. Er gehörte zum Schweigenden Kreis, der den Raben von Punin beriet. Als Sprecher des fünfköpfigen Kirchenrates des Puniner Ritus' war Aedin zu Naris ihr höchster Vertreter - Erster unter Gleichen. Damit stand er nach dem Raben von Punin an zweiter Stelle der Kirchenhierarchie.
So würdevoll, wie ich es nach dem ungewohnten und - für mich - langen Ritt konnte, ging ich ihm über die Stufen entgegen und sank vor ihm auf ein Knie. Nach dem Ringkuss fragte mich Seine Eminenz, was mich so weit fort von meinem Heimattempel wegführte. Die Ehre, dass einer der persönlichen Berater des Raben von Punin mich empfing und höchstselbst das Wort an mich richtete, verschlug mir die Sprache. Wie ein verschüchtertes Schulmädchen rang ich meiner Zunge einen Satz ab, der ihm meinem ursprünglichen Weg nach Warunk und meinem Vorhaben, ein Ordenshaus zu gründen, erklärte. Ich rand noch mit mir, ob ich ihn vom Heerzug erzählen sollte, doch das reichte ihm.
Ich war ein wenig erleichtert, als ich durch seinen Fortgang aus seiner Aufmerksamkeit entlassen war.