Niellyn, 12. Tag der Reife des Monds der Jagd im Jahr 2418 nach der großen Schlacht
Ruhig fließt die Strömung der Gjalska an diesem Abend durch Niellyn. In seine Meditation vertieft, starrt der Barbar auf die tiefblaue Wasseroberfläche. „Ifrunndoch“, nimmt er eine Stimme hinter sich wahr. Sie gehört Gon Partach bren Yarrodh, dem Yalding der Siedlung. „Die Monde werden länger, und um uns die Zeit zu verkürzen, haben wir beschlossen, uns in Barrach-Dân zum Spiel zu treffen.“ – „Und?“, gibt sich der Barbar wortkarg. „Es ist so…“, erklärt Partach, „…nun ja, …, wir können uns nicht einigen, wer die Regeln bestimmen darf.“ – „Ihr habt doch eine Regel“, erwidert der denkende Stammeskrieger in einer Gelassenheit, die der vermeintlichen Sanftmütigkeit der Gjalska-Strömung in nichts nachzustehen scheint. „Die Regel, keine Regel zu haben.“ – „Halte mich nicht für ein Cren, Durron“, entgegnet Patrach bestimmt. „Du wirst jetzt mit nach Barrach-Dân kommen und unseren Streit schlichten. Und um es vorweg zu nehmen: Unter den Gästen sind die Yaldinge mehrerer Haeradi. Eine Branndori, also eine Blutfehde, ist das Letzte, was ich möchte“. Schließlich, um seinen Gon nicht zu verletzen, folgt der Barbar dem Yalding in die große Halle, die auf dem umgedrehten Rumpf eines jener Drachenschiffe errichtet wurde, mit dem der Legende nach der hjalingische Teil seiner Ahnen die Gjalska erreichte. Gelassen nimmt der Barbar seinen Platz ein, während sich Partach und die Yaldinge der umliegenden Haeradi um ihn versammeln und gespannt darauf warten, wie sein Urteil ausfallen möge. Der Barbar nimmt einen kräftigen Schluck Met zu sich und erhebt er das Wort.
„Vor vielen, vielen Monden lebte ein Riese hier im Norden. Wolkenkopf war sein Name, der für seine Weisheit bekannt war. Man sagte ihm nach, dass sich seine Einsicht bis zu den Göttern herumgesprochen habe. Dies sollte sich eines Tages bewahrheiten, als die drei Weltenherrscher Sindarra, Fekorr und Makka seine Höhle aufsuchten, um ihm ihren Zwist zu schildern, aufdass er ob seiner Fähigkeit zur Erkenntnis in ihrer Sache gerecht urteilen mochte. Und zwar verhielt es sich so, dass die drei eines Tages eine schwarze Perle von unermesslicher Schönheit fanden. Dieses Schmuckstück gefiel ihnen so sehr, dass sie sogleich damit zu spielen begannen. Und jedes Mal, wenn einer der drei die schwarze Perle in seinen Händen hielt, gab es für die beiden anderen kein schöneres Gefühl, als dem oder der Glücklichen unter ihnen begeistert wie ein Cren zuzusehen und sich an seinem oder ihrem Glück zu erfreuen. Denn das Glück der anderen war für alle Drei so groß wie ihr eigenes. Allerdings hatte die schwarze Perle eine magische Eigenschaft, nämlich, dass sie sich im Lauf der Monde vermehrte. So erhöhte sich die Anzahl der Perlen zunächst auf zwei und kurz darauf auf drei. Schon bald kam eine vierte hinzu und zuletzt waren es sogar fünf dieser wunderschönen schwarzen Schmuckstücke. Doch je mehr Steine die Götter hatten, desto unzufriedener wurden sie. Wo früher Spiel herrschte, war nun Streit. Dieser rührte daher, dass Sindarra, die große Hüterin des Wissens der Ahnen, eine Liebe für jedwede Kleinigkeit pflegte. Jede Perle sei anders als die anderen, erklärte sie, nur auf den ersten Blick sähen alle gleich aus. Bei genauerem Betrachten jedoch gebe es unzählige Feinheiten, und folglich müsse das in den Regeln berücksichtigt werden. Fekorr, der Listige, stimmte seiner Zwillingsschwester in dieser Hinsicht zu. Gleichwohl forderte er jedoch, dass man die Perlen vor dem Spiel zunächst genau zu analysieren habe, damit man jede ihrer Stärken und Schwächen ausfindig machen und sich somit die ideale Kombination an Perlen heraussuchen könne. Nur das sei für ihn ein gewinnbringendes Spiel. Makka, zu guter Letzt, war die große Träumerin unter den Göttern. Folglich konnte sie weder Sindarras Liebe für fein säuberlich ausgearbeitete Kleinigkeiten noch Fekorrs Verlangen, die erfolgreichste Ausnutzung der Spielmechanik zu finden, nachvollziehen. Stattdessen wollte sie lediglich, dass sich die drei Götter gute Geschichten während des Perlenspiels erzählten, damit sie noch möglichst lange davon träumen konnte.“
„Geschichten sind eine nette Sache an langen Wintermonden“, unterbricht Gon Morved, Yalding von Rayyadh, den erzählenden Barbaren gelangweilt. „Allerdings weiß mein Neffe Rastar Ogerschreck mir da bessere aufzutischen. Wie lautet jetzt das Urteil des Riesen?“
Unbeirrt fährt der denkende Barbar fort: „Wolkenkopf überlegte. Dann ließ er sich die kleinen, dunklen Kugeln zeigen, wobei er sich nicht traute, sie mit seinen gewaltigen Pranken zu berühren. Weitere Zeit verstrich, die den Göttern schier endlos vorkam, ehe der Riese sein Urteil mit atemberaubender Langsamkeit verkündete: ‚Auch wenn Wolkenkopf Perlen sehen kann nicht. Weil sie zu winzig sind für Augen. So sind sie doch. Euren Worten nach. Für alle drei Göttercreg von euch von besonderer Schönheit. Das aber nicht alles ist. Diese Perlen. Wolkenkopf sieht es in seinem Herzen. Haben Kraft, vor Götter und Menschen beliebt zu machen. So spielt mit Regeln, die gefallen euch. Dabei prüft, ob Regeln eure machen angenehm. Dann werdet Regel erkennen ihr, die beste ist. Vielleicht wird im nächsten Makkamar sein Richter, der weiser als ich.“
„Und was hat das mit uns zu tun?“ Morved wirkt misstrauisch. – „Was es mit euch zu tun hat, müsst ihr entscheiden“, antwortet der Barbar in Aufbruchsstimmung. „Es soll mich bloß entschuldigen, wenn ich euren Zwist nicht lösen kann. Wenn Wolkenkopf kein Urteil fällt, dann kann ich auch keines fällen.“ – „Ifrunnoch“, entgegnet Morved gelöst. „Das Makkamar, von dem Wolkenkopf sprach, ist noch nicht angebrochen. – Geh zurück ans Gjalska-Ufer und sieh Makkas Funkeln zu! – Geh! - Aber sei mein Freund.“