Nicht gerade heimelig hier
MYSTERIÖSE ORTE, Anthologie
Verlag der Schatten
13 Kurzgeschichten und ein Gedicht über Orte, die deutlich – und noch deutlicher – anders sind, als sie eigentlich sein sollten.
Achtung: Es ist nicht ganz auszuschließen, dass man nach Lesen dieses Bandes zu erhöhter Schreckhaftigkeit tendiert und eventuell auch dazu übergehen wird, an einstmals für sicher befundenen Orten unspezifische Geräusche zu hören und am äußersten Rand des Blickfelds plötzliche Bewegungen wahrzunehmen.
Die gute Nachricht: Das vergeht wieder.
Die weniger gute: Weil einfach alles irgendwann wieder vergeht.
Zumindest ist dies weitverbreitet wissenschaftlicher Kanon. Allerdings ist fraglich, ob Wissenschaftler auch wirklich schon unter jede in dunkle Keller führende, laut knarrende und ächzende Treppe geschaut haben. Und stets auch wieder von dort zurück kamen, um von ihren Beobachtungen berichten zu können…
Doch versuchen wir es wieder etwas sachlicher.
Lokalität ist also der große Oberbegriff, unter dem sich die in diesem Band publizierte Belletristik versammelt. Es sind Orte mit ganz spezieller Charakteristik, die die Handlungsstätten der hier niedergeschriebenen Geschichten und des Gedichts darstellen. Der Titel dieses Bandes lässt ahnen, in welche Richtung es gehen wird. Und tatsächlich: Es wird nicht unbedingt immer gruselig, in jedem Fall aber unheimlich, mysteriös. Denn ganz gleich, ob es sich bei dem Ort der Handlung um eine archäologische Ausgrabungsstätte handelt, um eine verfallene Ruine, einen stillgelegten Vergnügungspark, ein altehrwürdiges, lange schon verlassenes Luxushotel oder gar um eine Bohrinsel, einen Zug, ein komplettes Dorf auf einer Insel – allen diesen Orten ist gemein, dass sie anscheinend für ungewöhnlich lange Zeit menschenleer waren. Und wie das mit solchen vereinsamten Orten manchmal eben so ist, könnte es wirklich gute Gründe dafür geben, ihnen auch weiterhin fern zu bleiben.
Aber Mensch wäre nicht Mensch, würde er nicht so häufig den mehr oder minder deutlich lesbaren Warnhinweis vor solchen Orten ignorieren.
Und so eröffnet sich dem Leser mit diesem Band ein bunter, abwechslungsreicher Reigen mit Geschichten, welche man im Idealfall auch nicht etwa in der überfüllten U-Bahn sondern wirklich lieber an ruhigen, einsamen Orten liest um in den Genuss des vollen Programms zu kommen, inklusive den Gänsehautmomenten und dem bei gehetztem Kichern einsetzenden Nachdenken über die Ursachen verschiedener nächtlicher Geräusche, wie etwa dem bis gerade eben ganz sicher noch nie zuvor vernommenen Knackgeräusch in dieser Wand dort oder dem schrittgleichen Knarren von der zum Schlafzimmer hinauf führenden Treppe. Brrr…
Sie kommt vor in diesem Band: Die klassische, tragische Geistergeschichte um eine zu erlösende Seele; ebenso findet sich der gute, alte Familienfluch, den es endlich auf einem alten Anwesen zu brechen gilt; die Clique neugieriger Jugendlicher ist dabei, die sich wegen einer Mutprobe auf unheilvolles Gelände wagt und dort den ultimativen, absolut tödlichen Horror erfährt; Rachsucht über den Tod hinaus lauert mancherorts; aber auch weniger ätherisches sondern eher an verschiedene wissenschaftliche Grenzbereiche angelehnte Phantastik kommt vor, welche sich unter anderem durch Sprünge durch Raum und Zeit äußert, und sogar in den Nicht-Raum, in die Nicht-Zeit, ins buchstäbliche Nichts also führt ein Weg, und dieser ist selbstverständlich Einbahnstraße…
Auch für diese Rezension gilt dass ich nicht für alle Geschichten, die es verdient hätten, die erforderliche Zeit aufbringen kann um mich mit ihnen hier zu befassen und ich mich somit auf diese beschränken muss, die meinen ganz persönlichen Geschmack am meisten treffen. Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, und somit mögen die Bestenlisten anderer Leser völlig zu Recht gänzlich anders aussehen.
Folgende Stories – in nicht wertender Reihenfolge gelistet – sagen mir am meisten zu.
DAS DACHZIMMER IM KOPF, von Daniel Huster
Zwei Erzählebenen, die wie auf einer einzelnen Spur fahrende Züge aufeinander zurasen, dazu zwei Protagonisten, die bei dem was sie tun vollkommen glaubhaft und echt wirken. Sehr schön ebenfalls, wie der Autor mit der Energieanzeige des Laptops als Metapher auf die Endlichkeit der Dinge verweist und mit ihr wie mit einer runterzählenden Uhr Stress erzeugt und auch den Leser unter Druck setzt. (Drei, zwei, eins.) Eigentlich mag ich ja keine Geschichten in denen Schriftsteller als Protagonisten vorkommen. (Und jetzt ist Schluss?) Aber diese hier ist anders. (Stirn abwischen.) Ganz anders sogar. (Und ja, jetzt ist Schluss.)
DIE MEERJUNGFRAU (Ruben Brüstle)
Eine Bohrinsel in der Nordsee. Bei Erreichen ist sie menschenleer, niemand weit und breit zu sehen. Einzig anhand eines aufgefundenen Tagebuchs kann der Leser sich Vorstellungen darüber machen, was sich hier schauriges zugetragen haben dürfte.
HEIM DER KATZEN (Johannes Harstick)
Ein altes, verlassenes Haus am Rand der Ortschaft, Gerüchte von schlimmen Menschenexperimenten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Und ein wirklich armer Kerl, der jetzt, in der Neuzeit, bei Einbruch der Abenddämmerung in genau dieses Haus hinein muss…
Eine dieser Geschichten, die Leuten ohne Angst vor Dunkelheit eine solche durchaus begreiflich machen können. Dabei gibt es natürlich kaum vernünftige Gründe, Dunkelheit zu fürchten. Es sollten eher jene Dinge sein, die sich in solcher Dunkelheit befinden könnten, welche zu fürchten sind.
Ich muss gestehen, dass ich seit dem Lesen dieser Geschichte eine Überempfindlichkeit an Füßen und Waden entwickelt habe; selbst ein leichter Luftzug, der meine Knöchel wie ein Hauch umspielt, wenn ich mich nachts mal ins Badezimmer begebe, lässt mich oftmals zusammenzucken und hektisch den Boden um mich herum absuchen. Sollte ich dabei jemals schnelle, klopfende Geräusche vernehmen, wie sie etwa klingen könnten, wenn jemand – eher etwas – auf seinen Ellenbogen eilig durch die Dunkelheit auf mich zukrabbelt, werde ich mich schreiend umdrehen und rennen, ganz egal wohin, nur weg.
Die folgenden Geschichten nun sind für mich nicht nur aufgrund ihrer Seitenzahl die Schwergewichte dieses Bandes.
Beide Stories sind ziemlich nah an 100.000 Zeichen dran und somit um ein mehrfaches größer als die anderen Geschichten. Ihre Autoren belegen eindrucksvoll und überzeugend, dass sie ihr Handwerk beherrschen, denn sie nutzen geschickt jede zusätzliche Zeile, um ihren Stories mehr Farbe, mehr Gestalt und somit mehr Leben zu verleihen, so dass das Lesen dieser Geschichten aufgrund der großen Ausdruckskraft ihrer Autoren zu einem durchaus genussvollen belletristischen Ereignis wird.
Beide Geschichten im einzelnen:
GRAND HOTEL (Julia Annina Jorges)
Der Harzburger Hof, seit Jahren leerstehendes Luxushotel bei Bad Harzburg, soll endlich wiedereröffnet werden und eine Architektin macht sich daran, Grundstück und Gebäudezustand für ein Gutachten zu dokumentieren. Dabei häufen sich so nach und nach die Anhaltspunkte, dass irgendetwas hier mit diesem Gebäude ganz und gar nicht in Ordnung ist, verdichten sich schließlich die Hinweise zu einem sehr konkreten Bedrohungsszenario, in dessen Finale es um Leben und Tod geht…
Diese Geschichte hat sehr viel von jenem gewissen Etwas, welches dafür sorgt, dass man sich auch Jahre später noch gut und vor allem gerne an sie erinnern wird.
Was sie neben den phantastischen Elementen, die in einem Band wie diesem eigentlich auch ziemlich sicher kommen müssen, zu einer wirklich phantastischen, zu einer tollen Story werden lässt sind vor allem die vielen Einzelheiten, die ich mit großer Begeisterung aufnehmen konnte.
Der Hintergrund dieser Geschichte ist real, das Gebäude des Harzburger Hofs, welches tatsächlich über Jahrzehnte hinweg ein Nobelhotel und sogar ein Spielcasino beherbergte, wurde erst vor kurzem, in der zweiten Jahreshälfte 2017, endgültig dem Erdboden gleichgemacht; unter anderem deshalb, weil es nach wiederholten Bränden in neuerer Zeit als einsturzgefährdet galt.
Die Autorin liefert mit dieser Story hier eine phantastische Erklärung dafür, was zu den Bränden in den letzten Jahren geführt haben könnte und warum die bisherigen Versuche, den Betrieb wieder aufzunehmen, scheiterten. Es würde innerhalb einer phantastischen Welt auf phantastische Weise wirklich gut passen. So entstehen Mythen.
Man merkt dieser Geschichte die sehr gründliche Recherche und auch die umfassenden Ortskenntnisse, das ausgiebige Hintergrundwissen der Autorin an. Die Schilderungen wirken allesamt sehr authentisch und erzeugen beim Leser schnell die Gewissheit, dass da jemand genau weiß wovon er schreibt. Man fühlt sich beim Lesen von kundiger Führung an die Hand genommen, die Beschreibungen erzeugen beinahe greifbare Substanz, fast meint man wirklich da zu sein und durch die Räume und Gänge zu gehen; es verkommt dabei nie zu einer trockenen Aufzählung von Historie, Inventar oder dem nüchternen Schildern eines Bauplans sondern bleibt stets lebendig erzählt, wird so miterlebbar. Vor allem geschieht dies alles elegant nebenher, ist nicht erzählerischer Mittelpunkt sondern dient, ebenso wie die gleichfalls sehr gelungene Zeichnung der in der Geschichte vorkommenden Figuren und deren Beziehungen zueinander, der Schaffung einer Atmosphäre, die erstmal Normalität vermittelt, welche mit Fortschreiten der Geschichte, dem sich anhäufenden Wissen bei Protagonistin und Leser aber mehr und mehr als trügerisch erkannt wird, da immer weitere und immer beunruhigendere Details aufgedeckt werden, die letztlich jene sogenannte Normalität aufbrechen und irreparabel beschädigen.
Wirklich starke Geschichte, ein großes Vergnügen – nicht gerade für die Protagonistin, sehr wohl aber für die Leser.
NACH UNS DAS NICHTS (Tobias Habenicht)
Vermutlich die allermeisten haben irgendwann schonmal die Erfahrung gemacht, dass ihnen ihr Webbrowser mittels eines Fehlers 404 mitteilt, die gewünschte Verbindung zu der vielleicht lange schon nicht mehr aufgesuchten Website könne nicht hergestellt werden; und oftmals bewahrheitet sich die bei solchem Ereignis sofort aufkommende Ahnung: Diese Website ist deshalb unauffindbar weil sie nicht mehr existiert. Auch kennen wir die manchmal große Geduld erfordernden Phasen – etwa wenn die Datenübertragung nicht verlässlich im gewohnt hohen Tempo sondern sehr deutlich langsamer stattfindet – in denen wir am Bildschirm zusehen können bzw. müssen, wie sich dort so nach und nach etwas aufbaut, Grafikelement für Grafikelement geradezu träge kriechend seinen Platz findet, für lange Zeit nichts wirklich sinnvolles angezeigt wird, das ganze lediglich wie ein sich manchmal monströs anmutender, hinkender Schritt zwischen einem Vorher und einem Nachher von was auch immer darbietet, wir mit den Fingern unruhig auf dem Tisch zu trommeln beginnen, während wir aus einer Schachtel kommend das klägliche Miauen von Schrödingers Katze zu vernehmen meinen, bis dann endlich die Darstellung am Bildschirm so steht wie sie sein sollte und der Rechner wieder bereit ist, auf irgendwelche Eingaben von uns zu reagieren.
Was nun, wenn es sich mit der Wirklichkeit, der greifbaren und erlebbaren Realität außerhalb von Bits und Bytes also, ganz ähnlich verhielte? Wenn jenes Phänomen, welches wir als Realität bezeichnen, nun so langsam aber sicher vor allem aufgrund der in den letzten Jahrzehnten so sprunghaft und exponentiell angehäuften Erkenntnisse, die die Menschheit ansammelte, an die Grenzen des Darstellbaren geraten ist, der Cache-Speicher des Erlebbaren mittlerweile seine Kapazität erreicht hat und die Wirklichkeit dazu übergeht, immer öfter Teilbereiche dieser Realität nachzuladen und andere Teilbereiche, welche schon länger irgendwie ungenutzt waren, also nicht mehr erlebt wurden, aus dem sie bis dahin schnell wieder verfügbar machen könnenden Cache gelöscht werden und fortan ebenfalls bei Wiedergebrauch nachgeladen werden müssen – so sie dann denn noch wiederzufinden sind und deren erneuter Aufruf keine 404 produziert…
Tobias Habenicht hat sich über solche, hier von mir nur als Annäherung und dazu unzureichend verbildlichte Dinge Gedanken gemacht und liefert als Produkt solcher Gedankengänge mit NACH UNS DAS NICHTS eine überaus packende Story über eine keinesfalls harmonische Gruppe von Freelancern, welche – von nicht all zu genau erwähnten Auftraggebern finanziert – weltweit äußerst beunruhigenden Vorgängen auf der Spur ist. Was als globale Forschungsreise beginnt, während der an den verschiedensten mysteriösen Orten Daten erhoben und Tests durchgeführt werden, gestaltet sich mit jeder weiteren erreichten Station immer mehr zu einem wahren Horrortrip mit nicht mehr bestimmbarem Zielort… »wo alles möglich ist.«
Das Ding saß, und zwar die ganze Story, von Anfang bis Ende.
Fazit:
Ein ordentlicher Band, der den meisten Freunden dieses Genres gut gefallen dürfte. Abwechslungsreiche Beiträge von Autoren, die mehr als bloß lesbar schreiben können, herausgegeben von einem passend zum Verlagsnamen anonym im Dunkeln befindlichen Team welcher Art und Gattung auch immer.
Kaufempfehlung? Aber klar doch. Für mich persönlich sind im Nachhinein betrachtet bereits die beiden vor allem stilistisch bärenstarken Beinahe-Novellen von Julia Annina Jorges und Tobias Habenicht Rechtfertigung genug für den Erwerb dieses Buchs.