Neulich tief im Dungeon

  • Neulich tief im Dungeon

    Eine Kurzgeschichte von Dagmar Jung

    Als altgediente Rollenspieler wissen wir alle, dass nichts Wesentliches geschieht, ehe die Helden die Szene erreichen, egal, wie lange dies dauern mag. Was aber geschieht stattdessen? Diese Frage blieb allzu lange unbeantwortet. Wir haben daher weder Kosten noch Mühen noch illegale Mittel gescheut, dem interessierten Leser einen wirklichkeitsgetreuen Einblick in einen typischen Abenteuerschauplatz zu geben. Die folgenden Informationen sind selbstverständlich streng vertraulich und vor allem vor Abenteurern geheim zu halten...

    Fackelschein erleuchtete die dunkle Krypta nur spärlich. Das flackernde Licht beleuchtete gut zwei Dutzend vermummte Gestalten, die sich rund um einen Altar versammelt hatten, einen mächtigen schwarzen Steinblock, in den uralte Runen und geheimnisvolle Zeichen geschnitten waren. Mitten auf der Oberfläche, die mit Blumen bestreut war, konnte man ein silbern eingelegtes Pentagramm erkennen. Eine schmale Rinne führte von dort zum Rand der Platte, darunter stand eine große irdene Schale auf dem Boden. Ein altertümlicher Dolch aus dunklem Obsidian lag in der Mitte des Pentagramms.
    Die Vermummten lagerten in Gruppen auf dem Boden. Einige würfelten, andere unterhielten sich halblaut und verzehrten dabei mitgebrachte Brote, nicht wenige hatten sich auf dem Boden ausgestreckt und dösten.
    „G-g-geht’s bald los? Ich f-f-friere so arg...“ ließ sich die Stimme eines jungen Mädchens vernehmen. Sie konnte ihr Zähneklappern kaum unterdrücken – kein Wunder, denn sie war trotz der Kälte lediglich mit einigen Blumenkränzen bekleidet. „Noch lange nichts in Sicht,“ kam die gelangweilte Antwort eines Kuttenträgers, der am dunklen Eingang der Krypta Posten bezogen hatte. „Da, nimm solange meinen Mantel,“ sagte ein anderer mitleidig und legte dem zitternden Mädchen seine wollene Kutte über die Schultern.
    „Wie lange müssen wir denn noch warten? Schau doch noch mal in die Kugel,“ verlangte einer der Würfelspieler und blickte dabei einen Greis an, dessen nachtschwarze Kutte ihn von den Graugekleideten unterschied. Der Greis, ein charismatischer Mann mit den asketischen Zügen eines Fanatikers erhob sich und zog eine kristallene Kugel aus seinem Gewand, rieb sie am Kuttenärmel ab, hielt sie dann auf der Rechten vor sich, machte mit der Linken einige kreisende Bewegungen darüber und murmelte Unverständliches. Alsbald begann die Kugel in einem kalten bläulichen Licht zu strahlen, fließende Wirbel kreisten darin. Die eisig brennenden Augen des Greises spiegelten das Licht des Kristalls wieder – oder leuchteten sie gar selber? Für lange Momente schien der alte Mann in Trance zu versinken, ehe er mit einem Ruck daraus erwachte. „Sie haben das Labyrinth und die Speerfalle hinter sich gebracht. Jetzt stehen sie vor der Rätseltür,“ verkündete er. Die versammelten Kuttenträger ließen ein enttäuschtes Stöhnen hören. „Das kann ja noch Stunden dauern,“ brachte einer die allgemeine Meinung zum Ausdruck.
    „Dann reicht es ja noch dicke für eine Partie „Dreier raus“ schlug der Würfelspieler munter vor und ließ die Würfel einladend im Becher klappern.
    „Ich hab keine Lust mehr,“ maulte das frierende Mädchen. „Ich hau jetzt ab!“
    „Du bleibst hier!“ „Ohne dich ist doch alles sinnlos!“ „Nun bleib doch, du weißt doch, dass wir dich brauchen,“ bemühten sich einige Kuttenträger, sie umzustimmen. „Hier, trink mal, das wird dich aufwärmen,“ bot einer ihr an und reichte ihr eine kleine Flasche. Sie nahm einen tiefen Schluck und hustete.
    „Die Rätseltür ist reine Glückssache,“ meinte eine nachdenkliche Stimme. „Manchmal schaffen sie die in ein paar Minuten, es braucht nur einer dabei zu sein, der das Rätsel schon kennt oder etwas Grips im Kopf hat.“
    „Also auf den Grips können wir hier wohl kaum hoffen. Immerhin haben sie schon einen halben Tag gebraucht, nur um die Tempelruine überhaupt zu finden, dabei kann man vom Dorf aus beinahe rüberspucken,“ kommentierte einer abfällig.
    „Dafür haben sie für das Labyrinth nicht lange gebraucht – wisst ihr noch, die drei Streuner und der Barbar? „Vertraut mir, ich habe Orientierung 16!“ zitierte einer spöttisch und rief damit Gelächter ringsum hervor.
    Einige der Kuttenträger hatten sich rings um den Greis mit seiner Kristallkugel versammelt und versuchten mit zusammengekniffenen Augen, etwas in den leuchtenden Wirbeln zu erkennen.
    „Hast du schon rausgekriegt, was sie so draufhaben?“ fragte einer mit leiser Besorgnis in der Stimme. „Im Rahmen des Üblichen, soweit ich sehen konnte,“ antwortete der Greis. „Der Magier könnte einen Elementargeist beschwören, wenn ihr ihm dazu Zeit lasst. Er ist ziemlich mächtig, aber dumm wie Brot – wenn er die Lösung nicht auf seinem Zauberbogen findet, fällt ihm nichts mehr ein. Auf die Kriegerin müsst ihr aufpassen, die ist wirklich sehr gut mit ihrem Schwert – hat die beiden Wächterstatuen in der Vorhalle praktisch alleine erledigt. Der Streuner scheint eine echte Schlafmütze zu sein. Bislang ist er nur den anderen hinterhergelaufen und hat noch nichts Nützliches beigetragen. Falls er aber zum Finale aufwacht, passt auf seine Wurfmesser auf. Der Zwerg ist zwar noch niedrigstufig, aber sehr stark und hat dazu ein magisches Schlachtbeil, also Vorsicht. Die Elfe ist niedlich, aber harmlos. Ihre Domäne sind Zauberlieder und Verständigungszauber, die werden ihr hier nichts nützen. Scheint allerdings intelligenter zu sein als die anderen – seht ihr, was hab ich gesagt? Sie hat das Rätsel gelöst und die Tür öffnet sich!“
    „Naja, war ja auch nicht so schwer“ warf ein Kuttenträger ein. „Aber du hast recht, sie sieht wirklich süß aus – Schade, dass sie immer nur aufs Metzeln aus sind, wenn sie zu uns kommen,“ fuhr er sehnsüchtig fort und versuchte noch einen Blick in die Kugel zu erhaschen.
    Doch der Greis steckte sie nun wieder fort. Seine schneidende Stimme unterbrach alle Gespräche. „Auf, Leute, macht euch fertig! Wenn sie erst mal die Feuerbrücke hinter sich haben, können sie jeden Moment hier sein. Lasst uns hoffen, dass sie sich inzwischen noch ein paar Schadenspunkte einfangen. Wer von euch noch mal austreten muss, soll sich beeilen, jetzt ist die letzte Gelegenheit.“
    Daraufhin erhoben sich die Lagernden. Einige drängten zur Tür hinaus, die anderen trafen allerhand Vorbereitungen. Sie rückten ihre Kutten zurecht und zogen die Kapuzen tief in die Stirn, sodass ihre Gesichter verborgen waren. Sitzdecken, Trinkgefäße und Essensreste wurden beiseite geräumt. Ein Vermummter goss mit leisem Bedauern den letzten Rest Bier aus einem großen, silbernen, mit Edelsteinen besetzten Kelch auf den Boden und stellte ihn dann ehrfürchtig auf den Altar.
    Widerstrebend gab das Mädchen die wärmende Kutte ihrem Besitzer zurück. „Ich hab aber keine Lust, mich auf den kalten Stein zu legen. Da friert man sich ja den Hintern ab,“ maulte sie.
    „Ist ja nicht für lange, sie kommen bestimmt bald, um dich zu retten,“ tröstete sie der freundliche Kuttenbesitzer und reichte ihr ritterlich die Hand, um ihr auf den Altar zu helfen. Sie schwang sich auf den Stein, legte sich aber nicht, sondern kauerte sich mit dicht an den Leib gezogenen Beinen hin, um so viel Wärme wie möglich zu bewahren.
    „Nun weine mal nicht – dir rücken sie schließlich nicht mit dem Breitschwert auf den Leib,“ rief ihr ein anderer Vermummter zu. Der neidische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
    Inzwischen waren Kerzen entzündet worden und aus Räuchergefäßen verbreitete sich ein schwerer Duft im Raum. Die meisten der Hinausgegangenen waren wieder zurückgekehrt.
    Der Greis räusperte sich und klopfte mit dem Obsidianmesser an den silbernen Kelch. Bei dem hellen Klang wandten sich ihm alle Augen zu. „Auf die Positionen,“ befahl er und die Kuttenträger mit Ausnahme des Türstehers formierten sich zu einem Kreis um den Altar. „Und du legst dich jetzt endlich hin, sie können jetzt jeden Moment hier sein,“ zischte er dem Mädchen zu. Sie verzog schmollend das Gesicht, fügte sich aber und streckte sich langsam und zimperlich auf dem Altar aus, wobei sie die zerdrückten Blumenkränze zurechtzupfte.
    Da näherten sich eilige Schritte von draußen. Ein weiterer Kuttenträger, offenbar ein Vorposten, kam atemlos in die Halle gerannt. „Ich habe sie durchs Guckloch beobachtet – sie haben die innere Vorhalle erreicht und werden gleich hier sein!“ keuchte er.
    „Fein. Also, meine Herren – auf Drei!“ Der Greis zog eine Stimmgabel hervor, schlug sie gegen den Altar, hielt sie ans Ohr, summte den Einsatzton, steckte die Gabel wieder weg, hob das Obsidianmesser als Taktstock und zählte damit drei vor. Pünktlich setzte der offenbar wohlgeschulte Chor der Kuttenträger mit einer getragenen Hymne ein. Die Töne entwickelten eine geradezu hypnotische Kraft, zugleich eintönig und voller mitschwingender Obertöne und arkaner Bedeutungen. Die Akustik der unterirdischen Halle warf Echos aus verschiedenen Richtungen zurück, die sich mit den Klängen des Chores trafen. Einige der Sänger begannen sich rhythmisch zu wiegen, andere folgten.
    Der Greis überließ den Chor sich selbst und erhob das Obsidianmesser mit beiden Händen zur Decke. Er intonierte einen Sprechgesang mit eigentümlich hallender Stimme. Die Worte einer unbekannten Sprache schienen sich kontrapunktisch mit der Hymne des Chores zu verbinden und daraus Kraft zu gewinnen, als ob Mächte einer anderen Dimension die Grenze der Wirklichkeit durchbrechen wollten.
    Die Kerzen flackerten wie durch einen unsichtbaren Windzug.
    Der schwüle Duft des Räucherwerks hing schwer und sinnverwirrend in der Luft. Das Mädchen lag nun reglos, mit geschlossenen Augen auf dem Altar, wie in Trance.
    Lauter und lauter ertönte der Gesang. Schrille Schreie der Ekstase durchbrachen immer häufiger die düstere Melodie. Die Sänger wiegten sich mit halb geschlossenen Augen, in denen nur das Weiße zu sehen war, hin und her.
    Da brachen die Worte der Macht aus dem Greis heraus, als ob eine andere Wesenheit von ihm Besitz ergriffen hätte. Er senkte wie um Maß zu nehmen den Dolch kurz auf die Brust des Mädchens, ohne ihre zarte Haut zu ritzen, dann riss er das Messer hoch in die Luft, den unmenschlich flammenden Blick starr auf das Mädchen gerichtet. Einen Augenblick lang hing das drohende Messer hoch über der Jungfrau. Schwebte da nicht eine wabernde Dunkelheit, wie eine formlose Gestalt, über dem wahnsinnigen Priester?
    Im selben Moment wurden hastige Schritte hörbar, beinahe übertönt vom Gesang, und fünf ramponierte Gestalten erschienen im Eingang. Die beiden ersten sprangen rasch zur Seite, um ihren Gefährten den Durchgang freizugeben. Sie schienen schon allerhand durchgemacht zu haben, um die Krypta zu erreichen, denn ihre Kleidung war zerschlissen von Schwerthieben, zum Teil versengt und stank nach verbranntem Leder. All dies tat ihrer Entschlossenheit offenbar keinen Abbruch.
    „Fahrt zur Hölle, du Knecht des Namenlosen!“ brüllte einer von ihnen, anhand von Robe und Stab als Magier kenntlich, riss die Rechte an die Brust und stieß sie in Richtung des Greises. Ein Feuerstrahl schoss aus seiner geballten Faust. Gewandt wich der Angegriffene aus.
    „Bei Brozzkurraz Hörnern! Tötet die Frevler, die den heiligen Tempel entweihen!“ schrie der Greis mit überkippender Stimme. Der Gesang kam ins Stocken, doch längst nicht alle Kultisten erwachten sogleich aus ihrer Trance. Einige jedoch stürzten sich, obwohl nur mit Dolchen oder den bloßen Händen bewaffnet, auf die Eindringlinge. Zwei große und kräftige Vermummte zogen Schwerter unter ihren Kutten hervor und stellten sich links und rechts neben den Priester, bereit, ihn mit ihrem Leben zu verteidigen. Der Greis hob erneut seine Hände zum Himmel und sang eine schrille, misstönende Anrufung...

    An dieser Stelle wollen wir die Szene verlassen. Der Fortgang der Geschichte würde den geneigten Leser ohnehin nur langweilen, ist er doch aus vielfacher eigener Erfahrung bekannt...wir hoffen jedoch, mit dieser lebensnahen Beschreibung ein wenig Licht in bislang eher unerforschte Bereiche des Rollenspiels getragen zu haben und verlassen uns, wie schon eingangs erwähnt, auf Ihre absolute Diskretion.

    Das sind keine Augenringe. Das sind Schatten großer Taten!