Gnomenland

  • Liebe Orkinnen und Orks, liebe Gastlesende,
    ich habe kürzlich eine Geschichte angefangen, über ein Universum, dass mir schon länger im Kopf herumgeistert. Sie hat nichts mit DSA zu tun (obwohl... sie könnte sich tatsächlich auf einer abgelegenen Lichtung oder am Waldrand des Reichsforstes zutragen... ;) ). Im Grunde steht dem eine Frage foran: Wie sähe das Leben aus, wenn ein Hüne nur 6 cm groß wäre? Die Gnomen meiner Geschichte nun sind derart klein.
    Sie leben in einer Welt voller riesiger Nahrungsvorkommen, müssen aber auch viel essen. Und ihre Welt ist gefährlich, voller grausiger Ungetüme, die sie verschlingen wollen. Und die Winter sind absolut tötlich im Freien, Gnome erfrieren rasch bei ihrer geringen Körpermasse und der Schnee liegt viele Mannslängen hoch. So leben die Gnome wann immer möglich tief unter der Erde in Stollen, die Arbeitsratten in den Boden gegraben haben, sie züchten Mäuse als Quelle für Milch, Fleisch und Fell und reiten auf Ratten auf die Jagd.
    Metalle können sie nicht verarbeiten, alles ist aus Grashalmen, vereinzelt Holz und Tierprodukten hergestellt.
    Aber genug der Einleitung. Hier kommt Teil 1. Oh, Kommentare sind natürlich herzlich Willkommen! :)

    Kapitel I

    Luft und Licht. Stets das erste, das man bemerkte, wenn man aus den Stollen trat, die fleißige Ratten tief in die Erde gegraben hatten. Wind, der über die sicher 30 Schritt hohen Grashalme zog, so dass diese sich leicht beugten. Da oben wäre es jetzt gefährlich, wie leicht könnte man heruntergeweht und in die Tiefe gestürzt werden? Glücklicherweise war es kein großer Aufwand, die Halme einfach zu fällen. Die Samen einiger dutzend konnte einen Gnom einen Winter lang ernähren, wenn es so kalt wurde, dass er an der Oberfläche nur wenige Stunden überleben könnte und sich das Volk tief unter die Erde zurückzog. Mond Mausmelker war emsig an der Arbeit. Der alternde Mäusezüchter musste Futter für seine Tiere gewinnen – die größten und fettesten weit und breit! Butter, Milch, Käse, Fleisch und Felle seiner Tiere waren noch über die Grenzen der Stadt hinaus begehrt. Seine drei erwachsenen Kinder schlugen mit Sicheln aus Holz mit Klingen aus geschliffenen Mäusezähnen oder Insektenkauwerkzeugen auf die Stämme ein, wann immer ein Halm fiel, machte er sich daran, die Samen abzuhacken und in Körbe aus jungen Gräsergeflecht zu werfen. Ein gutes Jahr! Der Spätsommer brachte eine fette Ernte und die Mäuse, die er im Herbst schlachten würde, brächte sie gut über den Winter. Man hörte, dass auch die Beerensammler und die Wächter der Dornenmauer, eine riesige Brombeerhecke, die, über Generationen kultiviert große Teile des Landes umgab und es vor den größten Ungetümen schützte, gute Ernten einfuhren. Das war gut, es gäbe Wein und Kuchen in Hülle und Fülle und das getrocknete Obst wäre eine Bereicherung zu Käse und Brot.
    Die Dornenmauer. Mond schüttelte es bei dem Gedanken. Über 30 Schritt erhob sie sich über das Land, Ranken dicker als ein Mann mit Dornen die einen solchen durchbohren konnten. Auf ihr gab es Stege und Brücken aus Grashalmen, auf denen die Wächter das Land dahinter im Auge behielten, um sie vor Ungeheuern zu schützen, deren Namen man nur im kleinen Raum mit Vertrauten sicher tief unter der Erde zu flüstern wagte: Katzen, Füchse, Dachse. Jeder davon könnte selbst einer ausgebildeten Kampfratte mit einem einzigen Biss das Genick brechen und ein Dutzend Gnome am Tag verschlingen – und noch mehr aus Spaß töten. Durch die Hecke kamen sie nicht hindurch, sie verfingen sich in den Dornen, aber darunter hindurch graben – das konnten sie. Dann mussten die Wächter und die Jäger reagieren, die Schlachtratten bemannen und sie vertreiben. Eine gefährliche Aufgabe, die nur mit den Speeren mit den Spitzen aus den hohlen Stacheln von Igeln gelingen konnte, die mit feien Löchern, bisweilen auch Widerhaken bestückt waren, aus denen Wespen- oder Bienengift aus dem Inneren tropfte. Für Gnome waren das absolut tödliche Waffen, selbst die riesigen Ratten mit ihren acht Schritt langen Körpern würden nach wenigen Treffern eingehen. Für die Ungeheuer aber bedeuteten die Angriffe nur Schmerzen, die sie rasend machten, ehe sie die Flucht ergriffen, sie zerbrachen die dicken Halme aus denen die Speerschäfte bestanden, dann mit Leichtigkeit, als wären es nur Zahnstocher. Es war schwer, so einen Speer durch ihren dicken Pelz zu treiben. Mond war ein Wächter gewesen und die glücklicherweise nur wenigen Begegnungen mit den Ungeheuern hatten sich tief in sein Gedächtnis gebrannt, viele Freunde hatte er durch sie verloren. Doch nun hatte er die Waffen niedergelegt, für seine Frau Meise und seine drei Kinder. Jetzt züchtete er Mäuse und baute Futtergras für sie an. Ein beschauliches Leben.
    Es riss sich aus seinen Gedanken und machte sich wieder an die Arbeit. Was war er doch für ein alter Träumer geworden! Ständig diese Erinnerungen an längst vergangene Tage… Das Gras raschelte irgendwo hinter ihm. Es kam etwas durch die Plantage auf sie zu. Mond richtete sich auf. Es war groß, was sich hier einen Weg bahnte. „Honigtau, Sonne, Sommerwind!“, rief er seine Söhne und seine Tochter, die sofort reagierten. Sie ließen ihr Werkzeug fallen und rannten zu dem kleinen Stolleneingang einige Schritt weiter, hinter dem ein kurzer Schutztunnel lag, gerade tief genug, um Schutz vor Habichten und Ungeheuern zu bieten. Sie verschwanden darin, ihr Vater folgte ihnen auf den Fuß, drehte sich um, um hinausblicken zu können und hob seinen Speer, ein einfaches Modell ohne Gift, vom Boden auf. War es klein genug, um in diese Höhle zu kommen, könnte er es auch erlegen. Was da so durch die Plantage gebrochen war, war zu groß für eine Spitzmaus – immer hungrige, sehr gefährliche Raubtiere. Es hatte die Größe einer Ratte, schätzte Mond. Wilde Ratten waren aber auch sehr gefährlich! Es näherte sich. Sonne und Sommerwind nahmen nun rechts und links hinter ihm Aufstellung, ebenfalls bewaffnet. Jeder erwachsene Gnom besaß einen Speer, das Leben außerhalb der Stollen war gefährlich! Wespen, Hornissen, Spitzmäuse, Gottesanbeterinnen von denen manche größer als ein Hüne unter den Gnomen werden konnten - sie und mehr stellten auch hinter der Dornenmauer eine ständige Bedrohung dar und jeder musste sich wehren können.
    Da erklang eine Stimme: „Familie Mausmelker? Ich bin es Winterkalt Schwarzspeer. Ihr könnt herauskommen!“
    Ein Glück! Winterkalt war ein alter Bekannter von der Dornmauer. Mond kam erleichtert aus der Höhle. Er war zu alt zum kämpfen. Fünf Schlachtratten warteten dort, je mit drei Gnomen auf dem Rücken. Alle waren mit Köchern mit Wurfspeeren ausgerüstet, der fordere Reiter auf jeder Ratte hatte zudem noch eine lange Lanze – vier Schritt Grashalm mit dicker Igelspitze und Steinen im hinteren Ende, die sie leichter zu Führen machte. Die Reiter selbst waren grimmige Gestalten in Mauspelzmänteln und kurzem Haar. Klassische Jäger für große Beute.
    „Schön dich zu sehen, alter Junge!“, rief Mond zu Winterkalt, „Was treibt dich hierher? Wollt ihr meinen neuen Frischkäse probieren? Mit feinen Schnittlauchstücken und warmen Brot ein Gedicht, sage ich dir! Oder willst du Vorräte für die Mauer kaufen? Trockenfleisch, Käse, Quark?“ Das war mehr so dahin gesagt, sie hatten keine Lastratten dabei und sich nicht angekündigt. Vorräte wollten die sicher nicht.
    „Weißt du es denn nicht?“, fragte der alte Jäger verwundert, „dein Sohn will Jäger werden, wir wollen sehen, ob er was taugt. Er begleitet uns zur Igeljagd hinter die Dornmauer, damit wir sehen, ob er was taugt.“
    Eiskalt überlief es Mond. „Sommerwind?“, fragte er leise, mehr seinen Sohn als den Jäger. „Ja, Vater, ich will Jäger werden oder Wächter, wie du einer warst. Ich möchte nicht immer nur diese eine Plantage sehen, Grassamen ernten und Butter stampfen. Ich will die weite Welt sehen, Ruhm und Ehre erlangen, indem ich die kostbarsten Güter nach Lichtenbach bringe und es vor den Ungeheuern schütze. Gerade du solltest mich verstehen.“
    „Ich hatte gute Gründe, die Dornmauer zu verlassen und den Hof meines Vaters zu übernehmen. Die Bilder werden mich nie mehr loslassen. Sohn, mach nicht den gleichen Fehler wie ich damals! Daran ist nichts abenteuerlich, du riskierst nur ständig dein Leben, abseits aller Stollen und oft ohne den Schutz der Dornmauer!“
    „Die Dornmauer ist nur so stark, wie die Leute, die sie bemannen. Jeder Speer zählt, Vater.“, meinte Sommerwind leichthin. Diese verdammten Werber! Jedes Jahr aufs Neue fielen dumme junge Frauen und Männer auf sie herein. Und jedes Jahr starben diese aufs Neue.
    „Weißt du, wie leicht ein Habicht dich von dieser Hecke pflücken kann? Hast du eine Ahnung, was es bedeutet direkt auf einen Fu… ein Ungeheuer zuzureiten?“ Vor Wut hätte er fast eines der Ungeheuer beim Namen genannt. Das brachte Unglück, rief sie herbei!
    „Ich bin kein Feigling, Vater, das weißt du. Du hast es geschafft, ich werde es schaffen.“
    Winterkalt hörte sich den Disput eine Zeit lang an, dann warf er ein: „Wir müssen los, Sommerwind Mausmelker! Und du, Mond mein alter Freund, es ist nicht gesagt, dass dein Sohn geeignet ist oder nach seiner ersten Begegnung mit einem Igel noch weit schlimmeren Ungeheuern entgegentreten will.“
    Mond resignierte. Er kannte seinen Sohn zu gut, er war wie er selbst in seinem Alter. Ein Igel war ein schreckliches Ungetüm. Ein Fleischfresser mit bisweilen zehn Schritt Länge, eingehüllt in zwei bis drei Fuß lange Stacheln. Seine Stacheln, Zähne und Knochen waren wertvolles Material für Werkzeuge, sein Fleisch galt als Delikatesse. Aber er war langsam. Eine erfahrene Gruppe Jäger konnten ihn mit Giftspeeren rasch zur Strecke bringen. Es mutete dann wie ein großer Sieg an, der die Herzen Junger Leute mit Stolz und Mut erfüllte. Bei der Rückkehr mit der Beute wurden sie gefeiert und schon standen sie auf der Dornmauer oder gingen gar dahinter auf die Jagt. Mond war es damals nicht anders ergangen.
    „Du bist erwachsen, Sommerwind, kannst gehen, wohin du willst. Aber ich als dein Vater bitte dich: Tue es nicht!“
    Der junge Gnom aber zog aus dem Stollen aus einer versteckten Nische ein Bündel hervor und lud es sich auf den Rücken, seinen Speer in einer Hand machte er sich auf den Weg zu den Ratten.
    „Es tut mir leid, Vater!“, sagte er und kletterte hinter Winterkalt an einem Seil auf dessen Tier und setzte sich in den Ledernen Sattel, den Winterkalt hinter seinem Körper verborgen hatte. Er musste das seit Wochen vorbereitet haben, hatte sich heimlich gemeldet und gepackt, sodass weder Mond noch seine Frau ihm von diesem Wahnsinn abbringen konnten.
    „Ich passe auf ihn auf, Mond Mausmelker, sorge dich nicht!“, rief der Jäger, dann setzten sich die fünf Ratten in Richtung Dornmauer in Bewegung.
    „Bis bald!“, rief Sommerwind und Mond blickte ihnen nach. Jetzt konnte er nur hoffen, dass sein Sohn lebend wiederkehrte. Eine Träne rollte seine Wange hinab, nichts mehr würde ab dem heutigen Tage mehr so sein, wie zuvor.

  • Kapitel II

    Auf dem Holzklotz lagen die Faustgroßen Grassamen, die Mond mit einem Rattenzahnbeil in Stücke schlug. Sein Hemd aus Brennnesselfasern war ganz durchschwitzt, es war eine Knochenarbeit. Doch zornig bearbeitete er die Samen, als wären sie schuld, dass sein Sohn fort war. Seine Tochter Sonne war neben ihm an einem anderen Hackstock beschäftigt, seine Frau Meise und sein jüngerer Sohn Honigtau zermalmten mit dem Mahlstein die Stücke zu feinem Mehl. Drückende Stille herrschte in dem Stollen, durch dessen Eingang in der Nähe Sonnenlicht hereinfiel. Nur das Hacken der Beile und knirschen des Steines waren zu hören. Warmes Brot mit frischem Quark mit Schnittlauch – Sommerwind liebte dieses Essen. Doch er war fort, fort um gegen Ungeheuer zu kämpfen und Träumen von Ruhm und Ehre nachzujagen.
    „Wie konntest du ihn gehen lassen?“, endlich stellte Meise die Frage, die schon die ganze Zeit in der Luft hing
    „Er ist erwachsen, wie hätte ich ihn hindern können? Es ist sein Recht, zu gehen und ich bat ihn, keinen Gebrauch davon zu machen.“, verteidigte Mond sich lasch.
    „Es ist reines Glück als Jäger jenseits oder Wächter auf der Dornmauer zu überleben. Du hast Glück gehabt, wird er es auch haben? Wie viele sind dort bei der Jagt nach Tieren oder der Verteidigung des Landes gestorben?“
    „Viele. Ich habe es gesehen, das weißt du. Ich wollte nie, dass eines unserer Kinder dort hingeht. Was hätte ich tun sollen? Ihn mit Gewalt festhalten? Du kennst Sommerwind. Er ist stur wie Maulwurf. Oder wie ich.“
    Meise nahm eine große Schüssel aus dem Regal an der mit Grasblättermatten verkleideten Wand. Sie war ein kostbares Stück aus Ton. Dieser wurde in den tiefsten Stollen gefördert und nach dem Töpfern lange über Unmengen trockenen Grases gebrannt. Die Hälfte aller Geschirrstücke zersprang dabei, wurde zu wertlosen Scherben, die andere zu wertvollen Familienerbstücken. Sie begann die Schüssel mit Mehl zu füllen.
    „Er wird es schaffen. Wir Mausmelker sind Glückspilze, das weißt du doch.“, flüsterte Mond leise und traurig. Ebenso leise begann seine Frau zu weinen. Er rammte sein Beil in den Hackstock und nahm sie in den Arm. „Er wird es schaffen“, flüsterte er erneut, mehr zu sich selbst.
    Honigtau lies den Kopf hängen, die Stimmung machte ihm sichtlich zu schaffen. Er war der sensibelste der Familie. Sonne hingegen versuchte sich abzulenken, nahm die Schale, gab Wasser und den Sauerteig vom Vortag hinzu und begann zu kneten. Wie gut er seine Kinder doch kannte, wie sehr er sie liebte! Jetzt musste der Teig durchsäuern, ehe sie den Ofen aus Steinen und Lehm befeuerten und das Brot backen würden.
    Unschlüssig stand Sonne da, wusste nicht, was sie nun tun sollte, um sich abzulenken. Sie war eine starke Frau gewesen, schon als Kind trotzig und immer bereit, ihren Willen durchzusetzen. Sie würde wohl den Hof übernehmen, wenn Mond und Meise zu alt wären. Honigtau würde anderswo sein Glück suchen, wenn er den Familienstollen endlich verließ, da war Mond sicher. Priester, Heiler oder Hauslehrer war sein Schicksal. Er sollte mit Gnomen arbeiten, nicht mit Mäusen. Dafür hätte er Talent, daran hätte er Freude.
    „Sonne, gehe doch und füttere die Mäuse!“, sagte Mond, sie brauchte jetzt Beschäftigung oder sie würde verrückt. Immer hatte sie zu ihrem großen Bruder Sommerwind aufgeschaut. Dass er fort war machte ihr ebenso zu schaffen, wie die Sorge und Angst ihrer Eltern, die sie als so stark kannte. Die junge Gnomin ging mit einem dankbaren Blick zu ihrem Vater.
    Honigtau jedoch kam herbei, um seine Arme um beide Elternteile zu legen.
    „Winterkalt Schwarzspeer ist ein sehr erfahrener Jäger, ebenso wie die anderen bei Sommerwind. Die bringen ihn uns zurück. Und dann bringen wir ihn zur Vernunft. Wir können ihn überzeugen, nur Kleinjäger zu werden – gefährlich genug, aber er bleibt innerhalb der Dornmauer, jagt nur Insekten und wilde Mäuse, schützt die Leute und macht wertvolle Beute! Winterkalt geht seit Jahren auf de Jagt und kommt immer zurück. Er ist gut.“, flüsterte er.
    „Nein, er ist der beste.“, meinte Mond mit zitternder Stimme und begann, sich zu beruhigen. Honigtau war immer schon gut gewesen, Leute zu beruhigen.
    „Kommt, gehen wir Sonne helfen.“

  • Kapitel III

    Da erhob sie sich: Die legendäre Dornmauer! 30 Schritt hoch, aus dich gewachsenen Ranken, eine grüne Wand mit schwarzen Punkten – die Brombeeren waren reif. Von den Stegen oben ließen sich Männer und Frauen herab, die mit Mauszahnsicheln die zähen Stiele der Früchte durchtrennten, sodass diese zu Boden vielen. Bei all den langen Dornen und der Tiefe ein gefährliches Unterfangen! Die Dornen waren tückisch gebogen, wie Sommerwind nun sah, bohrten sie sich in einen Mann, so würde dieser aufgeschlitzt wie eine geschlachtete Maus beim ausnehmen, wenn man versuchte, ihn nach oben zu ziehen. Überall standen Leute, den Blick in den Himmel oder auf jenseits der Mauer gerichtet, um nach Ungeheuern Ausschau zu halten. Sie alle trugen über ihren Hemden und Hosen aus Brennnesselfasern lederne Westen, die mit Wespenchitinplättchen beschlagen waren und sie in Gelb-Schwarz kleidete – die Uniform der Wächter und der Jäger, die sich in die weite Welt wagten und zugleich eine Warnung an jedes Ungeheuer, dass ein Angriff auf sie schmerzhafte Folgen hätte. Ein massiver Speer für den Nahkampf und drei Wurfspeere in einem Rückenköcher waren die Bewaffnung eines jeden. Am Fuße der Mauer ging es in Stollen in die Tiefe, die Jäger steigen ab, um ihre Ratten am Zügel zu führen. Auch Sommerwind stellte sich etwas breitbeinig auf den Boden – sein Gesäß tat weh, er war das reiten nicht gewohnt. Fasziniert schaute er in die Höhe.
    „Beeindruckend, nicht wahr?“, fragte Winterkalt.
    „Ja, sie sieht so bedrohlich aus. Dornig und riesig“, antwortete Sommerwind leise.
    „Das ist sie. Jedes Jahr im Frühling müssen wir die Stege erneuern, die der Winter mit Schneemassen und Stürmen zerstört, im Spätsommer müssen wir die Früchte ernten, um unseren Teil auch zur Ernährung unseres Volkes beizutragen und wenn ein Habicht kommt, lassen wir uns an Seilen zwischen die Ranken herunter. Dabei kommen immer wieder Leute ums Leben, die die Nerven verlieren und aufgespießt oder –geschlitzt werden. Die Dornmauer ist nicht unsere Freundin, sie ist eine gefährliche Kettenspitzmaus, die nach Blut giert, ob unseres oder das der Ungeheuer ist ihr gleich. Nur wir wissen sie zu zähmen, die Ungeheuer nicht, dass ist der Unterschied. Aber Fehler verzeiht sie nicht.“
    Sie betraten den Stollen und kamen in einen großen Saal. Ein Rattenpferch dominierte ihn, voller kräftiger Schlachtratten. Wie der Mauspferch bei den Mausmelkern zu Hause waren auch hier Decke, Boden und Wände mit großen Steinen und Lehm ausgekleidet, damit die Tiere nicht auf die Idee kamen, sich herauszugraben.
    Winterkalt packte Sommerwind an den Schultern, sah ihm in die Augen und sagte ruhig:
    „Hör zu, Mausmelker! Ich bin kein Werber, der jungen Leuten Honig ums Maul schmiert, ich will nur echte Kämpfer an meiner Seite haben. Ich werde dich die kommenden Tage prüfen, ob du für die Ausbildung geeignet bist, du wirst Blut, Schweiß und Tränen vergießen. Ich tue das für dich. Die zu weich sind sterben schnell auf der Dornmauer, geschweige denn jenseits von ihr! Bist du wirklich bereit dazu?“
    „Ja, ich werde das schaffen. Ich werde dir keine Schande machen.“, antwortete er ebenso ruhig.
    „In dir fließt das Blut deines Vaters, nur zwei Dinge hätten ihn von der Mauer bringen können: Der Tod und die schöne Meise. Schön, dass es letztere war, obwohl ich ihn nicht gern als Kameraden verloren habe. In der Dämmerung brechen wir auf!“
    „In der Dämmerung?“, fragte Sommerwind ungläubig. Tags war das Leben eines Gnoms schon gefährlich, aber nachts…
    „Igel sind nachtaktiv, vor allem in der Dämmerung. Wenn wir einen in seinem Nest schlafend töten, sehe ich wohl kaum, was du taugst, oder? Und ja, auch Eulen, Katzen, Füchse und Dachse kommen nachts heraus. Hast du zu viel Angst vor ihnen?“
    Die Namen dieser Ungeheuer so laut ausgesprochen zu hören erschütterte den jungen Gnom.
    „Nein, ich will schließlich Wächter oder Jäger werden“, sagte er dennoch mit bemüht fester Stimme.
    „Dann bist du ein Narr, aber das ist Grundvoraussetzung für unsere Berufe.“, meinte der alte Jäger.
    Dann wandte er sich einem seiner Kameraden zu: „Rattenzahn, besorg dem Jungen seine Ausrüstung.“
    Der nickte nur steif und schaute zu Sommerwind. „Dann komm mal mit, Junge!“
    Dass man ihn Junge nannte, gefiel dem jungen Gnom nicht, es war schon sechs Jahre her, dass er seine Mannwerdung gefeiert hatte, selbst sein jüngster Bruder hatte dies dieses Jahr getan! Aber er schwieg. Man würde ihn erst nach seiner Ausbildung als gleichwertig ansehen, vermutlich betrachteten die meisten Jäger ihn als Klotz am Bein. So schluckte er seinen Ärger hinunter und folgte Rattenzahn in einen Seitengang.
    „Sommerwind Mausmelker, nicht wahr?“, fragte dieser, er nickte. „Ich bin Rattenzahn Samenmahler, seid sieben Jahren Jäger. Hab nur gutes über deinen Vater gehört.“
    Sommerwind nickte nur. Sein Vater war allgemein bekannt und beliebt, hoffentlich würde er bald aus seinem Schatten treten.
    „Hier rein“, sagte der Jäger und betrat einen Seitenstollen mit einem Raum am Ende. Die Wände waren mit einem Geflecht aus Grasmatten ausgestattet und aus Halmen waren Ständer für unzählige Speere, Lanzen und Lederwesten bestückt.
    „Dann suchen wir mal ´ne Weste, die dir passt“, knurrte Rattenzahn und begann die Reihen der gelb-schwarz gestreiften Westen abzulaufen.
    „Ich bekomme schon eine Uniform?“, fragte Sommerwind ungläubig.
    „Ja, sicher. Gelb-Schwarz schreckt die Ungeheuer ab, wenn sie nicht sehr hungrig sind. Wenn man da draußen eine Überlebenschance haben will, sollte man diese Farben tragen. Es erinnert sie an Wespen, Bienen und Hornissen und an unsere Jäger, die sie schmerzhaft gestochen haben. Aber mach dir nie etwas vor: Haben sie richtigen Hunger, greifen sie an und dann sterben immer Leute. Auch junge, unerfahrene Ungeheuer sind gefährlich, sie kennen die Bedeutung der Farben manchmal noch nicht“
    Sie mussten etwas herumprobieren, bis sie eine passende Weste gefunden hatten.
    „Dabei muss man Geduld haben“, entgegnete Rattenzahn, „Du musst dich als Jäger gut bewegen können, das erhöht die Überlebenschance etwas, vor allem, wenn es dich von der Ratte wirft“
    Als sie nach schier endlosem Suchen eine Uniform gefunden hatten, die dem alten Jäger zusagte begaben sie sich noch tiefer in die Erde. Hier fanden sich endlose Gänge mit Seitenräumen und schließlich ein Saal, in dem Dutzende Gnome saßen und bei verdünntem Brombeerwein und Brot über alles Mögliche zu reden. Alle trugen sie die gelb-schwarzen Westen der Jäger und Wächter und Sommerwind war etwas stolz ebenfalls eine solche zu tragen.
    Da erhob am anderen Ende des Raumes Winterkalt die Stimme: „Wächter und Jäger!“, schlagartig wurde es still, „Darf ich euch Sommerwind Mausmelker vorstellen? Er wird meinen Trupp morgen zur Jagd begleiten, möglicherweise wird er bald zu uns gehören!“
    Es ertönte allgemein Applaus.
    „Einige von euch“, fuhr der Jäger fort, „kennen seinen Vater Mond Mausmelker, wenn etwas vom dessen Blut in seinen Adern fließt, und davon bin ich überzeugt, können wir froh sein, diesen tapferen Jungen Mann hier begrüßen zu dürfen. Nun esst weiter, die Nachtschicht naht!“
    Dann kam Winterkalt herüber.
    „Iss auch du und iss reichlich! Wir wissen nicht, wie lange wir fort sind und reiten mit leichtem Gepäck. Außerdem könnte es deine letzte Mahlzeit sein.“