Zigaretten und Rauch

  • Teil 1.
    We're gonna do this song about cigarettes. – Doug Pinnick

    Je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr bleiben sie gleich. Sechs Monate bin ich weg gewesen, und das einzige, was sich geändert hat, ist, dass ich jetzt rauche. London hat das nicht mit mir getan. London hat nur den Druck von mir genommen und durch bequeme Leere ersetzt. Am Anfang war da noch ein Hauch von Bedauern, wie ein Flüstern aus der Geschichte, beim dem ersten Spaziergang die Themse entlang. Aber jetzt ist da nur noch Leere und Rauch.
    Das Rauchen kam wie von allein, wie ein zugelaufener Hund. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich genau damit anfing. Es war kein großer Anlass. Es sollte auch nicht die Leere ausfüllen. Warum auch? Sie war bequem, und Rauchen ist es auch. Es war halt irgendwann irgendwo in London. Früher reichte immer eine Wasserflasche. Ich redete mir immer ein, dass ich nur etwas brauchte, um meine Hände zu beschäftigen. Ich rauche nicht viel, vielleicht zehn Zigaretten am Tag. Ich kontrolliere mich da aber nicht, das wäre zynisch. Ich sagte auch immer, dass ich nur für das Bild, für den Stil anfangen könnte, eine Zigarette zu halten und zu paffen. Das halte ich heute für dämlich. Weil es völlig am Punkt vorbeigeht.
    Hier hat sich nichts geändert. Ich gehe aus dem Bahnhof, Musik im rechten Ohr, die ich kaum wahrnehme. Aber es ist schön, dass sie da ist. Im linken Ohr Verkehrsgeräusche, das schwerfällige Rauschen der Busse und der Menschen, das sanfte Zischen, wenn Reifen durch Pfützen schneiden. Ein Bettler fragt mich nach Kleingeld. Ich gebe ihm ein paar Münzen, das Wechselgeld einer Flasche Wasser. Keine Nächstenliebe, nur Gleichgültigkeit Er bedankt sich. Die Bahnhofshalle erinnert mich vor den tief hängenden Wolken an die Westminster Abbey, gerade weil sie es nicht ist. In den letzten sechs Monaten ist kein Tag vergangen, an dem ich mir nicht vorstellte, in die Abbey zu gehen und zu beichten.
    Es fängt an zu regnen. Das macht nichts. Es ist nicht weit.
    Ein Mädchen steht vor mir und schaut mich an. Sie fragt nach dem Weg zur Uni. Es ist Semesteranfang, das hatte ich vergessen. Ich muss fast lächeln, als ich sie frage, wo genau sie hin will. Sie lächelt und sagt es mir, unsicher wie fast alle.
    Folgen Sie mir, Madame, sage ich und nicke in die Richtung, in die ich gehe. Ich stelle die Fragen, die Neue so beantworten, wie ein Ertrinkender nach einem Rettungsring greift. Ihre Vergangenheit und der Teil der Zukunft, der absehbar scheint, das ist sicheres Terrain. Sie ist ein wenig aufgeregt, übertrieben nett und hübsch, wenn sie aufgeregt ist.
    Wir sind da. Der Regen ist weich und gleichmäßig. Ich weiß nicht mehr, warum, aber ich erzähle ihr noch von dem alten Straßenmusiker, den ich in der Nähe des Oxford Circus traf. If you dig it, it's yours, sagte er mir, und in dem Moment dachte ich, es hörte sich gut an. Sie lädt mich zur WG-Einweihungsparty ein, sie kennt hier doch so wenig Leute, ich soll ruhig noch wen mitbringen. Klar, sag ich, winke und gehe weiter.
    Die Tür zum Treppenhaus ist offen, die allein erziehende Mutter, die über ihr wohnt, wühlt gerade im Briefkasten und der Kinderwagen steht in der Tür. Ich zwinkere dem Kind darin zu, als ich den Wagen aus dem Weg räume. Ich nehme nicht mehr, wie früher, zwei Stufen auf einmal. Im dritten Stock nehme ich das kleine, in rotes Londoner Geschenkpapier gewickelte Päckchen aus der Tasche, stecke es wieder zurück und nehme stattdessen die wie von einem Kind, in Wahrheit natürlich von mir gefaltete Papierblume aus der Brusttasche. Dann drücke ich die Klingel. Von oben kommt ein Mädchen die Stufen heruntergehüpft. Ich drehe mich nur zu ihr um, weil ich warte.
    Es ist vielleicht vier Jahre alt, hat hellblonde Locken und ein Gesicht wie ein Junimorgen. Sie sagt Hallooo, ich sage Hi, sie ist auf dem Weg nach unten. Mir ist, als hätte ich eine Narbe auf ihrer Stirn gesehen, aber ich bin mir nicht sicher. Es wird plötzlich unglaublich wichtig, herauszufinden, ob da eine Narbe war oder nicht.
    Ich schaue das Treppenhaus herunter, aber ihre Stirn ist nicht mehr zu sehen. Unten höre ich sie wieder Hallooo sagen, und da fällt mir ein, warum ich eine Narbe sehen wollte. Ich kenne sie von Fotos. Von alten Fotos. Das Mädchen auf den Fotos ist damals beim übermütigen Hin- und herlaufen vor einen Türrahmen geknallt, der sich ihr, wie sie sagte, in den Weg gestellt haben muss. Sie hat so geblutet, dass ihre ältere Schwester ihre Mutter fragte, ob sie jetzt sterben müsse. Das Mädchen auf den Fotos ist heute zwanzig und ich habe seit zwei Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Für einen kurzen Moment stürzt ein Berg aus Panik über mir zusammen. Weil er sollte. Ich flüchte. Kurz bevor ich draußen bin, meine ich ihre Tür aufgehen zu hören.
    Draußen setze ich mich auf die nächste Bank und zünde mir eine Zigarette an. Die nasse Straße und der Tabak riechen nach Begehren und Erfüllung. Ich rauche, weil ich aufhören kann, hat sie immer gesagt. Also würdest du aufhören, wenn du es nicht mehr könntest, habe ich dann gefragt.
    Die Frage, ob ich kann, stellt sich nicht. Ich will nicht.
    Ich bin wieder ruhig. Die Erinnerung ist wieder da, aber nur so, als würde ich mich an ein Buch erinnern, das ich vor Jahren gelesen habe. Ohnmacht, so sanft wie eine Umarmung, Angst, als würde man im Zeitraffer altern, und weil keine neuen Erfahrungen den Zerfall begleiten, stürmen die alten immer wieder ein. Die Unruhe.
    Das ist alles vorbei.
    In Wahrheit ist Glück nie so willkommen wie Unabänderlichkeit. Ich weiß, was ich jetzt zu tun habe. Ich muss aufstehen, den nächsten Zug nehmen und dahin fahren, wo ich eigentlich hin wollte. Das Geschenk dahin bringen, wo es hin soll. Glück ist nie so willkommen wie Unabänderlichkeit, und alle Freude ist eigentlich Erleichterung. Ich sitze auf der Bank und rauche. Irgendwann kommt das kleine Mädchen vorbei und starrt mich an, ohne Erinnerungen, ohne Urteil. Ich halte ihr die Papierblume hin. Ist die für mich, fragt sie. Für wen sonst, sage ich. Sie blickt sich um und sagt, Stimmt. Sie nimmt mir die Blume aus der Hand und geht ins Haus. Ich bleibe sitzen und rauche, bis es dunkel ist. Mal regnet es, mal nicht. Das unruhigste ist der Zigarettenrauch, bevor er sich über der Lichtkugel der Straßenlaterne verliert.


    Teil 2
    I don't give a damn if he is or not. This is something between Jesus and me.
    – Julian Castle

    Am selben Tag, in einem anderen Teil einer vielleicht auch anderen Stadt. Später. Zwei Männer stiegen aus einem dunkelblauen amerikanischen Wagen, der schon seit längerem am Straßenrand stand. Vielleicht haben sie gewartet, bis es dunkel war. Und dann noch ein ganzes Stück länger. Eines stand jedenfalls fest: Es war dunkel. Und eins noch: Diese beiden Männer sahen nicht so aus, als würden sie verraten, warum sie so lange gewartet haben. Der eine war jünger als der andere. Er trug ein weißes Hemd und eine Hose, die ganz unauffällig zu dem Hemd passte. Nicht aber zu seinem Gesicht. Denn das war platt, blass, kinnlos, kümmerlich und bestand nicht aus Linien, sondern nur aus Flächen. Wie ein Pfannkuchen. Sein Name war Stanley Castleton und in seiner Freizeit lief er manchmal dunkelhaarigen Frauen hinterher und versuchte sie mit seinem Interesse für Almodovar-Filme zu beeindrucken. Wenn sie ihn erwischten. Er hatte das Licht des Wagens angelassen und schaute sich verwirrt nach dem piependen Geräusch um, wie ein Reh, das gerade eben vom Himmel gefallen und in der Wüste gelandet ist. Da ertönte die Stimme des anderen Mannes. Sie war wie treibender Sand.
    "Stanley, du Nuss. Du hast das Licht angelassen."
    Dazu zog er die Augenbrauen nach oben und versuchte, mit seinen Stielaugen das Licht auszuknipsen. Er war älter als Stanley und trug einen Anzug wie ein Chicagoer Gangster in den Zwanzigern unter einem Trenchcoat. In der einen Hand glimmte eine selbst gedrehte krüppelige Zigarette, die andere beherbergte einen eleganten Gehstock. Sein Gesicht sah aus wie - versuchen wir es anders: Stellen Sie sich vor, Sie fliegen hundselend nach zwei Flaschen Black Label und schätzungsweise 30 Jahren ohne Schlaf, Rasur, Mundhygiene und klare Gedanken über ein karibisches Dorf, in dem gerade ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch und ein Orkan direkt nacheinander gewütet haben, und als Sie hinunterblicken, schauen alle Überlebenden, ausnahmslos die ältesten Männer des Dorfes, zusammengepfercht auf dem einzigen sicheren Fleck, zu ihnen nach oben. Und sie alle sehen aus wie nach einem dutzend Flaschen Black Label und schätzungsweise 130 Jahren ohne Schlaf und Rasur.
    Das ist nur das Gesicht dieses Mannes.
    Stanley wusste noch nicht einmal, wie er ihn anreden sollte. Der Alte war eine Legende, und das hier war Stanleys erster Fall. Die Kollegen nannten ihn manchmal Monty. Oder "Pest", "Ghul", "Trümmerfeld", manchmal "Ahab". Natürlich immer nur, wenn der Alte nicht da war. Der Letzte, der ihn auch nur Monty genannt hatte, konnte sich angeblich erst an seinem neuen Arbeitsplatz, einem Safaripark in Tansania, den Büromülleimer auf seinem Kopf von einem Schamanen entfernen lassen und sprach seitdem nur noch mit den Elefanten, die er beaufsichtigte.
    "Oh, klar, Mr, ähm, Sir … Chef." plapperte Stanley und tauchte ins Auto zurück, als würde er in ein Vakuum gesogen. Fast meinte man, das Geräusch zu hören. FFLLLPPP.
    Als er wieder herauskam, stand der Alte schon an der Haustür, beäugte das Schild neben der Klingel, runzelte die monströsen Stirnfalten, klopfte mit seinem Gehstock brachial an die Tür, klingelte, zündete sich eine Zigarette an, ließ die davor mit einem rasselnden Atemzug fast verschwinden, las in einem Gedichtband von Bukowski und wedelte ungeduldig mit der Hand in Richtung Stanley, wobei seine Finger auf einem eingebildeten Klavier, das umgedreht schräg in der Luft hängen musste, das Intro von Mendelssohn-Bartholdys Lied ohne Worte klimperte.
    Alles gleichzeitig.
    "Stanley, deine Blödheit ist nicht mehr feierlich. Und wer mich kennt, weiß, dass ich alles feiern kann, wenn's nicht flüssig genug zum trinken ist."
    "Sollten wir uns nicht auf den Job konzentrieren und ein wenig mehr Geschlossenheit demonstrieren?" Stanley fügte ein "du fauliger, alter Sack" hinzu, aber so leise, dass es von dem gigantischen Lachanfall des Alten übertönt und in eine Dimension der lautlosen Verachtung katapultiert wurde, in der sich sonst fast ausnahmslos von seelenlosen Touristenautomaten begaffte lebende Statuen und Pantomimen tummelten.
    Der Alte lachte und lachte und lachte. Er brüllte, er schrie, er holte soviel Luft, dass sein Brustkorb wie ein überreifes Fass zu platzen drohte, er schüttelte sich wie unter Krämpfen, hervorgerufen durch namenloses Entsetzen oder einen gigantischen Lachanfall, Spinnen, Tausendfüßler und einige kleine Vögel flüchteten aus seinem Bart oder wurden rausgeschüttelt, die Adern an seinen Schläfen spannten sich wie Muskeln, die gegen einen tiefen und düsteren Zwang ankämpften, einige Adern in seinen Augäpfeln platzten mit einem laut hallenden PLOPP und tränkten das, was vorher gelblich war, blutrot, er hustete sich die Speiseröhre, die Luftröhre, die Lunge und den Magen aus dem wunden Hals, und dann lachte er wieder. Sein Lachen gellte und schoss durch die Nacht in diesem beschaulichen Vorort und wehte wie ein obszöner Wind durch die Ohren in die Hirne der Bewohner und hinterließ ein dräuendes Verlangen nach der dunklen, brennenden Grenze des Menschseins.
    Er verstummte augenblicklich, als die Tür aufging und eine Frau sich und ihre schwarzen Haare in den Rahmen goss. In einen Teil des Rahmens, angelehnt an den rechten, um genau zu sein. Sie sah aus, als wäre sie in der romantisierten Variante eines fahrenden Zirkus aufgewachsen. Wenn sie sich bewegte, meinte man Schellen und Rasseln schellen und rasseln zu hören.
    "Guten Tag. Ich dachte doch, ich hätte die Klingel gehört."
    "Aber werte Dame, das ist schlechterdings unmöglich. Ich kam noch nicht dazu, zu läuten."
    "Das ist mir unerklärlich."
    "Gleichviel. Wir müssen mit Ihnen reden."
    "Aber wer sind Sie denn, meine Herren?"
    "Wir sind vom DOD. " Er wischte einmal kurz in der Höhe ihrer Hüfte mit seinem Portemonnaie durch die Luft. "Der Schweinepriester hier ist Stanley Castle. Und mein Name ist Montgomery C. Bloch."
    "Castleton. Ich heiße Stanley Castleton."
    "Wofür steht das C?"
    "Cheshire."
    "Ach so. Ja, dann kommen Sie doch bitte rein."
    "Ich dachte schon, Sie fragen nie. Sieht nach Regen aus."
    "Das Dach wird uns davor schützen."
    "Dachte ich mir."
    "Aber geraucht wird drinnen nicht."
    "Und ob."
    Sie betraten einen Flur, der so erschreckend nichts sagend aussah, dass alle drei ihre Schritte unwillkürlich beschleunigten. Wenn Bloch und Castleton jedoch dachten, es würde im Wohnzimmer besser werden, hatten sie sich gehörig geschnitten. Castleton ignorierte die Aufforderung, sich auf die Couch neben eine fette, zusammengerollte Katze zu setzen und eilte mit wehendem Haar gleich durch in die anderen Räume, aber auch da war die einzige Reaktion seines Unterbewusstseins Brechreiz. Er hielt über der Spüle in der Küche an, stützte sich mit beiden Armen schwer ab und atmete tief durch. Das heißt, er wartete auf Kotze. Dabei blickte er in den Abfluss, der anfing, sich zu drehen und zu schlängeln. Neben der Spüle stand ein Jogurtbecher, aus dem ein roter Plastiklöffel ragte, daneben lag der Verschluss des Bechers, offensichtlich saubergeleckt. Stanley hatte das Gefühl zu fallen, durch den Abfluss gesaugt und gequetscht zu werden. Ihm war, als rufe der Abfluss – oder besser: etwas in dem Abfluss – seinen Namen. Unterlegt wurde diese schauerliche Stimme aus dem Abgrund von dem Mahlen seiner Knochen und dem Schmatzen seiner Organe. So würde es klingen, wenn sein Körper gezwungen sein würde, sich dem engen, verkalkten Rohr anzupassen.
    Dann riss er sich zusammen. Im Großen und Ganzen war es nur Vertigo, also das, was passierte, wenn man mit der Kamera gleichzeitig zurückfährt und ranzoomt, sagte er sich. Er wunderte sich über seine eigene Dämlichkeit und zog den Zeigefinger aus dem Abflussloch.
    Gerade rechtzeitig, denn in genau diesem Moment kam Bloch in die Küche stolziert.
    "Stanley, was zum zwiefach Gehörnten machst du hier? Genug getrödelt. Die Frau will so langsam bestimmt wissen, was wir hier zu suchen haben. Bis gerade eben konnte ich sie mit meinem Interesse für die Fotos ihrer buckligen Verwandtschaft hinhalten. Geh und beruhige sie ein bisschen. Aber fass sie nicht an. Ach, und finde raus, wie sie heißt. Ich hab das doch glatt vergessen. Wenn ich gleich reinkomme, musst du dann nur noch einen Satz basteln, der unauffällig ihren Namen enthält. Voila."
    "Alles klar."
    Bloch ging zum Kühlschrank, öffnete ihn schwungvoll und nahm eine Dose Bier aus der Tür. Schon wollte er die Tür wieder zuschlagen, aber er hielt inne und linste kritisch in den Kühlschrank. Voller Abwesenheit stellte er die Dose ab. Seine Hand schoss hinein und kam mit einer Zwiebel wieder heraus. Bloch beäugte sie kurz, riss ein paar Häute ab und biss herzhaft rein. Einen Moment stand er mit geschlossenen Augen da, dann ließ er die angebissene Zwiebel in der Manteltasche verschwinden und kehrte mit einiger Wehmut zu seinem letzten Fall zurück.
    "Also Stanley, bringen wir es hinter uns."
    Stanley unterhielt sich mit schwitzigen Händen und der Frau.
    "Fräulein Nakszynski hier…"
    "Kinski."
    "Was?"
    "Mein Name ist Kinski. Das habe ich Ihnen doch eben gesagt."
    "Natürlich. Also, Chef, Sir, Fräulein Kinski hier sagt erstens, dass der Gesuchte nicht hier ist und zweitens, dass sie keinen Grund sieht, warum er hier sein sollte, da sie ihn drittens absolut nicht kennt."
    "Papperlapapp", sagte Bloch.
    "Aber so ist es. Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, aber vielleicht sollten Sie Ihre Quellen noch einmal gründlich überprüfen." Ihr war anzumerken, dass sie froh war, nicht mehr mit Stanley allein zu sein. Das war auch daran zu erkennen, dass sie sich wie ein fliehendes Pferd von ihm entfernte und förmlich versuchte, sich auf Blochs Schoß zu setzen, obwohl er stand. Aber der war ein Profi. Sie fiel beinah hin, fing sich aber noch, und das sehr anmutig.
    "Unsere Informanten überlassen Sie wohl besser uns," sagte er grimmig. "Guter Tipp, allerdings. Danke."
    "Bitte schön."
    "Dann gehen wir wohl mal unseren Informanten auf den Zahn fühlen, was? Schönen Tag noch."
    Er hatte die Hand schon am Türknauf. Plötzlich drehte er sich um. In der Hand hielt er eine aus Papier gefaltete Blume, die er wie ein Zepter fast bis in das Gesicht der Frau schwang. "Was sagen Sie dann hierzu?"
    Stanleys Kopf knallte gegen ein Bild von einem Haus mit großen Fenstern und riss es von der Wand. Ms. Kinski war verblüfft, wusste aber nicht, wovon genau.
    "Gar nichts. Kenne ich auch nicht. Sollte ich?"
    "Nein, natürlich nicht. Sie kennen ja auch den Gesuchten nicht."
    "Eben."
    "Righty-right."
    "Na dann, es war schön, Sie kennen zu lernen, Mr Bloch."
    "Dito. Cheerio."
    "Sollten Sie mir nicht Ihre Nummer geben, falls… mir noch was einfällt?"
    "Nein."
    Die Tür öffnete sich und ein junger Mann ein. Er hielt ein in rotes Geschenkpapier gewickeltes Kästchen in den Händen wie eine Opfergabe an Cthulhu. In seinem rechten Ohr steckte ein kleiner Kopfhörer. Außerdem war er vollkommen durchnässt. Bloch wirbelte herum, immer noch mit der Blume in der Hand. Der Mann sah die drei Menschen, aber vor allem Bloch an, als wären sie Shub-Niggurath und nicht Cthulhu, wie gehofft. So sprach er auch: "Oh, Verzeihung, hier bin ich auch fal…", dann blickte er wie frisch überfahren auf die Blume.
    Bloch brummte wie alter Löwe oder ein alter Kühlschrank. Er wurde wütend auf den Strolch, der ihm den Weg nach draußen versperrte.
    "Was plapperst du da, Nervenbündel? Aus dem Weg, wenn dir deine Kniescheiben da gefallen, wo sie sind."
    "Wo haben Sie diese Blume her? Wer sind Sie? Was ist denn heute los?"
    "Schnauze und weg da."
    Ms Kinski wurde es langsam zu bunt. Sie fragte, nicht zu Unrecht, was das hier solle. Die Worte schwebten durch den Raum und wurden dann vermutlich von Stanleys Aura der panischen Verschwitztheit erstickt, bevor sie irgendeine Wirkung entfalten konnten. Stanley selbst schoss plötzlich nach vorne und stürzte sich auf den benebelten Neuankömmling. Er erwischte ihn volle Sau und fegte ihn durch den Türrahmen nach draußen. Der Ohrstecker des Fremden wurde aus seinem Ohr gefetzt, stand einen unendlich kurzen Moment in der Luft wie festgenagelt und folgte dann dem Menschenknäuel wie in einem Roadrunner-Comic. Bloch war überrascht, aber nicht unbedingt negativ. In der Luft lag der Geruch von verbranntem Testosteron. Irgendwo bellte ein Hund.
    "Schöne Idee, Stanley. Wie ich immer sage: mitdenken", sagte Bloch und nickte wohlgefällig.
    "Er ist es, Sir! Der Gesuchte!" presste Stanley hervor, das Gesicht auf Grasnarbe.
    "Oh. Natürlich", sagte Bloch, blickte auf die Blume, die er schon vergessen hatte, zog einen Colt aus dem Mantel und drückte ab.
    Der Mann war sofort tot. Stanley stand auf, klopfte sich ab und zog die Leiche an dem Arm zum Wagen. Dort verfrachtete er sie ungeschickt in den Kofferraum. Dabei sah er aus, als würde er einem vorbeikommenden Polizisten sowas sagen wie "Nee, danke, meinem Kumpel hier geht's echt super."
    Ms Nakszynski hatte nicht geschrieen, weil Bloch ihr die Hand mit der Blume halb ins Gesicht gestopft hatte. Das hier war schließlich nicht sein erstes Barbecue.
    Jetzt fummelte sie sich die Papierblume aus dem Mund, sah dabei so sexy aus, wie es geht und sagte:" Ich habe diesen Mann noch nie zuvor gesehen."
    "Das ist mir scheißegal."
    Und es stimmte.
    Bloch und Stanley stiegen in den Wagen und waren verschwunden.
    Ms Nakszynski schloss die Tür und fragte sich, wer der Mann war, der auf ihrem Rasen erschossen wurde, womit er das verdient hatte, sie fragte sich, wer die beiden Männer wirklich waren, wer sie geschickt hatte, wohin sie die Leiche brachten, sie fragte sich, ob sie etwas hätte verhindern können, ob die Sache anders hätte ausgehen können, ja sogar müssen, ob sie es melden sollte, und wenn ja, wem, und was sie denen sagen sollte. Ihre Gedanken wurden von dem Bild, das auf dem Boden lag, unterbrochen. Sie hob es auf und warf es in den Müll. Dann öffnete sie die Dose Bier, die sie in der Küche fand, und das Zischen der halb geöffneten Dose, die auf den Boden fiel, übertönte fast das grässliche Knirschen und Schmatzen, als sie in den Abfluss gesogen wurde.

  • Die Geschichte gefällt mir, schön.

    Soll das in der Cthulhu-RPG Welt spielen? Wäre ja eigentlich egal, ich bin nur über den Namen gestolpert, den ja ein nicht-RPGler nicht kennen würde oder?

  • Tagchen.
    Danke für's Lesen und kommentieren erstmal. Schön, dass es gefällt.

    War nicht explizit so gedacht, dass es in der Welt spielt. Cthulhu und seine Sippe sind, wenn man so will, pures name-dropping. Die Zielgruppe besteht auch in der Tat eher aus Leuten, denen das nichts sagt. Ich hab die Geschichte bisher zweimal vor Bekannten vorgelesen und im zweiten Teil bei Begriffen wie eben Cthulhu, Shub-Niggurath, Ahab, Bukowski, aber auch Vulkanausbruch, Zwiebel, Elefanten, Pfannkuchen, entsprechende Bilder gezeigt. War recht lustig und führte einmal sogar zu einer längeren Diskusson über Lovecraft die Großen Alten.;)